Über die Bedeutung des Ausdrucks: Unser Nächster

1. In Hinsicht auf die Vorschriften der Tora, welche unser Verhalten gegen unsere Mitmenschen betreffen, haben wir unter dem Ausdruck „unser Nächster“  oder „unser Nebenmensch“ alle Menschen ohne Unterschied der Rasse, des Volkes, des Standes und des Glaubens zu verstehen. Der Geringste in der menschlichen Gesellschaft, der niedrigste Verbrecher, der roheste Wilde; er ist unser Nächster, unser Nebenmensch.

2. Da Gegner Israels und der Tora diesem Satz, welcher die Grund­lage für alle Vorschriften dieser Abteilung bildet, zuweilen widersprochen haben, so ist es notwendig, dass wir uns einige von den vielen Beweisen einprägen, welche aus der Tora selbst für diesen Grundsatz erbracht werden können.

a. Die Tora lehrt uns: Gott ist allen gütig, seine Barmherzigkeit umfaßt alle seine Geschöpfe; er läßt auch dem Sünder seine Gnade zuteil werden, und erhört den nach Brot schreienden Raben. Wie könnte er, der uns gebietet, in seinen Wegen zu wandeln, wollen, dass wir gegen irgend eines seiner Geschöpfe etwas unternehmen, was er selbst diesem Geschöpf nicht tun würden?

b. Die Tora lehrt uns: Der Mensch ist im Ebenbilde Gottes geschaffen. Wie könnte dieselbe Tora gestatten, dass wir einen Unterschied machen zwischen Menschen und Menschen; wir würden ja in jedem, den wir um das geringste zurücksetzen, Gott selbst, in dessen Ebenbild er geschaffen ist, verachten.

c. Die Tora lehrt uns, dass alle Menschen von einem von Gott geschaffenen Elternpaar abstammen, als Brüder und Kinder eines Vaters, Gottes, sind. Jeder Vater will, dass seine Kinder sich gegenseitig lieben, und ist betrübt, wenn sie lieblos und unge­recht zueinander sind. Darum betrüben wir Gott, unseren liebevol­len Vater, wenn wir gegen irgend einen Menschen uns lieblos oder ungerecht verhalten.

d. Bei dem Grundgebot, welches uns die Tora in bezug auf unsere Nebenmenschen erteilt (3. Mos. 19,18) und bei vielen einzelnen ähnlichen Geboten wird ausdrücklich beigefügt: „Ich bin Gott“, um uns anzudeuten, dass wir diese Gebote nicht bloß um unseres Neben­menschen, sondern auch um Gottes willen befolgen müssen, gleich­viel welcher Mensch immerhin es sei. (3. Mos. 19, 10.14.16.18.32.34.36.)

e. Dieses Grundgebot wird (3. Mos. 19,34) in bezug auf den Fremdling noch einmal mit dem Zusatz eingeschärft: „Ihr seid selbst Fremdlinge gewesen im Lande Ägypten“. Daraus lernen wir, dass wir selbst Menschen, die uns wie die Ägypter gegenüberstehen, andern Volkes, andern Glaubens, feindselige Unterdrücker und Würger unschuldiger Kinder, genau so behandeln müssen, wie jeden anderen Menschen. 

f. Die Tora lehrt uns, dass durch Israel alle Völker der Erde gesegnet, d.h. zur Anerkennung und Verehrung Gottes geführt werden sollen. Die Propheten weissagen als höchsts Ziel, das die Menschheit erreichen soll, einen ungestörten Frieden unter allen Menschen. Die Tora würde demnach sich selbst und diesen Weissa­gungen widersprechen, wenn sie gestattete, dass wir durch Lieblo­sigkeit oder Ungerechtigkeit diesem erhabenen Ziel Hindernisse in den Weg legen.

g. Die Erzählungen der Tora und der Propheten, welche uns als warnende und ermunternde Beispiele dienen sollen, zeigen uns an vielen Stellen, wie die größten Männer der jüdischen Vergangen­heit liebevoll und gerecht gegen die Angehörigen anderer Völker, selbst gegen Heiden gehandelt haben. Abraham, unser Stammvater, rettet uneigennützig den König von Sedom, betet für diese sünd­hafte Stadt, bewirtet unaufgefordert unbekannte Fremdlinge (1.Mos. 14 und 18). Moses, unser Lehrer, beschützt ihm ganz unbe­kannte Hirtinnen gegen die Roheit ihrer Stammgenossen (2. Mos. 2, 16‑21). Josua erfüllt seinen heidnischen Feinden einen durch Betrug ihm abgelockten Eid (Jos.9). Salomo betet bei der Einwei­hung des Tempels für die Heiden (1. Kön. 8, 41‑44). Wie wir aus einer Stelle (1. Kön. 20,31) ersehen, war die Liebe des israelitschen Volkes gegen seine heidnischen Nachbarn allgemein bei diesen bekannt und gerühmt.

h. Auch der Talmud bestätigt, dass sowohl das Grundgebot als alle übrigen Vorschriften, welche uns die Tora in bezug auf unsere Nebenmenschen erteilte, sich auf alle Menschen ohne Unterschied beziehen. R. Akiba lehrt: Wir müssen jeden Menschen lieben, weil jeder im Ebenbilde Gottes geschaffen ist. Ferner lehrt derselbe: Die Torastelle: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ (3. Mos. 19,18), ist ein Hauptgrundsatz der Tora. Ben‑Assai aber lehrt: Die Torastelle: „Dieses ist das Buch von der Nachkommenschaft Adams“ (1. Mos. 5,1), ist ein Hauptgrundsatz der Tora. Ben‑Assai will uns lehren, dass der Satz; „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, erst dann seine wahre und volle Bedeutung erhält, wenn wir ihm auf alle Nachkommen Adams beziehen.

i. Als ganz besonders wichtig ist zu beachten, dass der Talmud die ewige Seligkeit, d.h. den von allen Menschen erhofften Heilszu­stand der Seele nach dem Tode des Leibes, den Fraommen aller Völker und Nationen zuerkennt. Um zu den Frommen gezählt zu wrden, wird aber nicht gefordert, dass sie alle Vorschriften der Tora, sondern nur die sieben Adam und Noach erteilten (noachidi­schen) Gesetze befolgen. Diese verbieten: 1. Götzendienst, 2. Gotteslästerung, 3. Unzucht, 4. Mord, 5. rechtwidrige Aneignung fremden Besitztums, 6. den Genuß von Fleisch, welches einem lebenden Tier vom Leibe geschnitten wurde; ausserdem enthalten sie das Gebot: 7. die Völker sollen eine je ihren Verhältnissen entsprechende Rechtspflege einführen und handhaben.

k. Da nun die sämlichen Völker, unter welchen Israel zerstreut ist, nicht nur diese Gesetze in ihre Sitten und Gesetzgebung aufgenommen haben, sondern auch die ganze Tora als von Gott geoffenbarte Wahrheit anerkennen  und ihre Vorschriften über Sittlichkeit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit beobachten, so müssen wir nach dem Talmud dieselben als fromme und zur ewigen Seligkeit berufene Menschen hochachten. Wie sollte da jemand behaupten können, die Tora mache einen Unterschied zwischen Menschen und Menschen?

3. Aus diesen Gründen, denen noch viele beigefügt werden könnten, folgt, dass alle nachfolgenden Vorschriften der Tora über Liebe, Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit gegen unsere Nebenmenschen sich auf alle Menschen ohne irgend welchen Unter­schied beziehen; und wenn die Tora (5. Mos. 23,8) uns verbietet, einen Ägypter geringzuschätzen, weil wir das Gastrecht in seinem Lande genossen haben: wie sollten wir uns eine Lieblosigkeit oder Ungerechtigkeit erlauben dürfen gegen die Völker, in deren Län­dern wir seit Jahrtausenden leben und Schutz, ja gleiches Recht mit den übrigen Einwohnern genießen?

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