Die Lehre der Tora über Gottes Verhältnis zum Menschen

1. Der Mensch ist das vorzüglichste Geschöpf Gottes auf Erden. Die auf der Stufenleiter der Geschöpfe Gottes zunächst unter dem Menschen stehenden und zuletzt vor diesem erschaffenen Tiere ließ Gott als lebendige Wesen aus der Erde hervorgehen ‑ Leib und Leben ist bei ihnen eins ‑ sie gehören ganz der Erde an. Den Leib des Menschen aber bildete Gott selbst aus Erde; dieser Leib hatte jedoch kein Leben; Leben erhielt er erst dadurch, dass Gott ihm den Lebensodem ins Angesicht hauchte. Der Mensch ist demnach ein Doppelwesen, ein der Erde entnommener Leib und ein Gott entstam­mender Geist, die Seele. Beide sind miteinander verbunden, aber nicht vereinigt; der Leib lebt durch die Seele, die Seele wirkt durch den Leib.

2. Von dieser Art der Schöpfung des Menschen sagt die Tora: Der Mensch ist im Ebenbilde Gottes, in Ähnlichkeit mit Gott geschaf­fen; das heißt: Die Gott entstammende Seele hat Eigenschaften, die den Eigenschaften Gottes in beschränktem Maße ähnlich sind und durch Ausbildung immer mehr ähnlich werden können; der Leib aber ist von Gott als eine würdige Hülle, als passendes Werkzeug für die Seele geschaffen worden. Der Vorzug des Menschen vor dem Tier besteht also keineswegs nur in der Seele, sondern auch im Leibe. Darum beziehen sich so viele Vorschriften der Tora auf die Reinhaltung, die Ernährungsmittel und Verrichtungen des Leibes. Der Mensch soll stets darauf bedacht sein, dass sein Leib eine heilige Wohnung, ein geeignetes Werkzeug des Gott ähnlichen Geistes in ihm sei und bleibe; jede Befleckung des Leibes entwürdigt und befleckt auch die Seele.

3. Im einzelnen sind besonders folgende Vorzüge des menschlichen Leibes zu beachten:

a. Die aufrechte Gestalt, das jede Regung der Seele spiegelnde Angesicht und der zum Himmel gerichtete Blick, durch welchen es dem Menschen möglich ist, die größten Wunderwerke des Schöpfers, die Himmelskörper, die beredtesten Zeugen seiner unermeßlichen Macht zu betrachten.

b. Der Bau der Glieder, besonders der Hand und der Finger, wel­che, vom Geiste gelenkt und geleitet, großartige Kunstwerke hervorzubringen vermögen, Kunstwerke, die Zeugnis davon ablegen, welche wunderbare Macht Gott in der Schöpfung der Menschen geof­fenbart hat.

c. Die dem Tiere fehlende Fähigkeit, unter jedem Himmelsstriche zu leben, durch welche es dem Menschen möglich wird, die Macht, Weisheit und Liebe Gottes allenthalben zu bewundern, jeden Fleck der Erde zum Ruhmestempel Gottes zu weihen.

d. Die höchste Auszeichung des menschlichen Lebens ist das Sprachvermögen. Nur ein sprechendes Wesen kann ein klar denkendes Wesen sein. Durch die Sprache werden dem Geiste die Vorgänge in ihm selber erst klar; durch sie kann er die erkannten Wahrheiten anderen mitteilen und die von anderen erkannten empfangen, und so die Gesamtheit aller menschlichen Erkenntnisse Gemeingut aller werden. Erst der mit der Sprache begabte Mensch war fähig, gött­licher Offenbarung gewürdigt zu werden und im Gebet mit seinem Schöpfer in Verbindung zu treten.

4. Die Gott ähnlichen Eigenschaften der Seele des Menschen sind folgende:

a. Das Erkenntnisvermögen, dessen höchste Stufe die Vernunft ist; durch sie vermag der Mensch den Gesetzen und Kräften der Natur nachzuspüren, die Bahnen der Gestirne zu messen und aus den sichtbaren Geschöpfen einen unsichtbaren Schöpfer zu ahnen. Die vielen Wahrheiten, welche auf dem Gebiete

der verschiedenen Wissenschaften durch menschliche Forschung im Laufe der Zeit entdeckt worden sind, haben einen Teil des göttli­chen Allwissens auch dem Menschen errungen; die Tora allein ist nicht der menschlichen Vernunft entstammt; aber indem der mensch­liches Geist sich in die Tiefen des Gotteswortes versenkt, wird er selbst Eigentümer eines Teiles der Allweisheit Gottes. So köstlich ist die Gottesgabe der Vernunft, dass der Dank für sie, die Bitte um sie, die erste Stelle in unserem Gebete einnimmt ().

b. Das Gefühlsvermögen; diesem Vermögen gehört besonders auch die Freude an, welche wir an allem Edlen, Guten und Schönen, nament­lich an der Schönheit der Werke Gottes (Ps. 92,5) empfinden; durch diese Freude sind wir Teilhaber der Seligkeit Gottes, der sich (Ps. 104,31) seiner Werke freut. Das Gefühl, welches uns an Leid und Freud unserer Mitgeschöpfe Teilnahme empfinden läßt, das sich bis zu einer der Selbstaufopferung fähigen Liebe zu unseren Mitmenschen steigern kann, ist nichts anderes als ein Funke der Güte und Liebe Gottes, der in uns glimmt.

c. Das Gewissen, welches uns zum Guten rät und das Böse uns verwerflich erscheinen läßt, das uns durch Freude belohnt, wenn wir das Gute getan, uns durch Kummer und Betrübnis straft, wenn wir das Böse verübt haben, es ist ein Strahl von Gottes Heilig­keit und Gerechtigkeit, welchen er mit der Seele uns eingehaucht hat.

d. Auch an der Ewigkeit Gottes hat die Seele Anteil, denn sie ist unsterblich; der Tod trennt sie zwar vom Leibe, sie steigt aber nicht, wie mit dem Tiere sein Leben, mit ihm ins Grab, sondern sie lebt fort und erscheint vor ihrem Schöpfer, um für ihre guten Werke den Lohn, für ihre Sünden die Strafe zu empfangen, soweit dieses nicht schon während des Erdenlebens geschehen ist.

In den heiligen Schriften deutlich ausgesprochen und, nach der Überlieferung unserer Weisen s. A. (Synh. 90 b), mehrfach auch in der Tora angedeutet ist die Lehre, dass die im Tode vom Leibe getrennte Seele einst in einer nur Gott bekannten Zeit mit dem Leibe wieder vereinigt werden wird. (Die Auferstehung der Toten, Techijat hametim).

e. Die höchste Würde hat der Schöpfer dem Menschen dadurch ver­liehen, dass er ihm einen Teil seiner Freiheit gab, die Freiheit des Willens. Das Tier folgt gezwungen seinem Naturtrieb, seine Tat hat darum keinen (sittlichen) Wert. Die Sanftmut des Schafes und die Grausamkeit des Tigers sind ganz gleichwertig; diese ist kein Laster, jene keine Tugend. Die Tat des Menschen aber ist Sache seiner eigenen freien Wahl. Darum haben die Taten des Menschen einen (sittlichen) Wert. Die gute Tat bringt den Men­schen Gott näher, macht ihn Gott ähnlicher und ist der Belohnung würdig; die böse Tat dagegen entfernt den Menschen von Gott, dem Heiligen und verdient die Strafe des Allgerechten.

Durch die Willensfreiheit ist also dem Menschen, dem einzelnen wie der Gesamtheit, die Möglichkeit gegeben, durch eigene Kraft, durch eigenes Ringen immer vollkommener und Gott ähnlicher zu werden, während bei dem Tiere das einzelne ebensowenig wie eine ganze Gattung einer wesentlichen Vervollkommnung fähig ist.

5. Eines fehlte noch dem mit diesen Gaben ausgerüstieten Men­schen, eines, das ihm nicht anerschaffen sein durfte, wenn ihm seine höchste Würde, die Freiheit des Willens, gewahrt bleiben sollte: Noch kannte er Gott und dessen Willen nicht, noch wußte er nicht, was nach Gottes Willen gut oder böse ist. Dieses Wissen mußte ihm von außen kommen; anerschaffen hätte es, wie der Natur­trieb beim Tiere, die Freiheit des Willens aufgehoben. Diesen Mangel, der die höchste Vollkommenheit des Menschen ausmacht, ersetzte der allgütige und allweise Schöpfer durch die Offenba­rung, d.h. durch die übernatürliche, unmittelbare Mitteilung, welche Gott über sein Wesen und seine Willen dem Menschen machte. Die Offenbarung ist demnach eine notwendige Ergänzung des Men­schen, der Abschluß des Schöpfungswerkes, der Anfang der göttli­chen Weltregierung. Darum fügen unsere Weisen s.A. an den ersten Vers der Tora, der vollkommensten Offenbarung, die tiefe Bemerkung: Die Welt ist nur um der Tora willen erschaffen worden. Die Bestimmung des Menschen ist demnach keine andere, als die freiwillige Erfüllung des ihm geoffenbarten göttlichen Willens.

6. Der so ausgerüstete Mensch lebte im Zustand des höchsten irdischen Glückes und himmlischer Seligkeit; denn er lebte in Gottesnähe und war im Genusse der Erdenfrüchte nur durch ein Verbot eingeschränkt. Von Eden aus sollte sich sein Geschlecht über die ganze Erde ausbreiten, sie zum Paradies umschaffen und alle irdischen Geschöpfe nach Gottes Willen seinen Zwecken dienstbar machen Ohne die Sünde wäre die ganze Erde ein Eden geworden. Aber der willensfreie Mensch gehorchte nicht Gott, sondern der Schlange, die seinem Unglauben schmeichelte: Ihr werden nicht sterben! seinem Vernunftdünkel: Ihr werdet Gott gleich werden! seiner Sinneslust: Wie schon zum Anschauen, wie gut zum Essen! Da schloß sich hinter dem Menschen die Pforte des Paradieses und Fluch traf die Erde, doch zum Heile des Menschen. In Leiden und schwerem Kampfte um sein Brot sollte er seine Triebe beherrschen, seine Abhängigkeit von Gott fühlen lernen. Doch läßt Gott den Weg zur Rückkehr nach dem Paradiese für die Menschheit bewachen (1.Mose 3,24), sie soll, sie wird sich zu­rückringen. Ihr Führer sollte Israel, der Wegzeiger die Tora werden.

Gott der Herr bildete den Menschen, Staub von der Erde und hauch­te in sein Antlitz Odem des Lebens, so ward der Mensch ein leben­diges Wesen. 1.Mos. 2,7.

Gott sprach: Wir wollen einen Menschen machen in einer unser würdigen Hülle, wie es unserem Ebenbilde entspricht. 1.Mos. 1,26.

Er (Gott) machte uns klüger als die Tiere der Erde, weiser als die Vögel des Himmels. IJob 35,11).

Du hast ihn (den Menschen) den Engeln wenig nachgesetzt und mit Herrlichkeit und Würde gekrönt. Du machtest ihn zum Beherrscher deiner Hände Werk, alles legtest du ihm zu Füßen. Ps. 8. 6‑7).

Siehe, ich habe heute das Leben und das Gute, den Tod und das Böse vor dich hingelegt… Wähle das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen. 5.Mose 30. 15, 19.

Der Staub kehrt zurück zur Erde, was er war, der Gesit aber kehrt zurück zu Gott, der ihn gegeben. Pred. Sal. 12,7.

Seite 21 Darum freut sich mein Herz und frohlockt meine Ehre (Seele), selbst mein Leib wird ruhig liegen, dass du meine Seele dem Grabe nicht überlässest, deine Frommen nicht hingibst, Verwesung zu schauen. Du machst mir kund den Weg zum Leben, der Freuden Fülle ist vor deinem Angesichte, Seligkeit in deiner Rechten ewiglich. Ps. 16, 9‑11.

Viele von den im Erdenstaube Schlafenden werden erwachen, diese zum ewigen Leben, jene zur ewigen Schmach und Schande. Die, welche nach Weisheit gestrebt, werden glänzen wie des Himmels Glanz, die aber, welche viele zur Frömmigkeit angeleitet haben, wie die Sterne, ewiglich und immerdar. Dan. 12. 2,3.

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