Niddah

von Andrea Gropp

Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Katholisch-Theologische Fakultät
SS 2007

Hauptseminar: Rein und unrein. Zur Welt des dritten Buches der Tora (Levitikus)
Dozentin: Prof. Dr. Marie-Theresia Wacker


Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der frauenspezifischen Unreinheit im Judentum, das heißt mit dem durch die Menstruation verursachten Zustand der niddah. Auch nach einer Geburt oder bei gewissen Krankheiten gilt der niddah-Status, doch soll das Hauptaugenmerk nicht auf diesen Formen liegen, sondern die durch Menstruation verursachte Unreinheit im Fokus dieser Arbeit stehen.

Historische Herkunft

Die Idee von der Unreinheit einer menstruierenden Frau findet sich im Buch Levitikus; interessanterweise gibt es offenbar zwei unterschiedliche Konzeptionen, dieser Unreinheit und des Umgangs mit ihr:

  • Lev 15, 19-30 beschreibt die von der niddah ausgehende und auf Menschen und Gegenstände übertragbare Unreinheit; bei Menschen, welche die Frau oder von ihr verunreinigte Gegenstände berühren, währt die Unreinheit bis zum Abend; Männer, die mit ihr schlafen, werden für sieben Tage unrein. Prinzipiell ist dies jedoch nicht verboten oder mit irgendwelchen Sanktionen verbunden.
  • Lev 18,19 dagegen ist Teil einer Aufzählung verbotener Sexualkontakte und untersagt den Geschlechtsverkehr mit einer menstruierenden Frau; dies wird gesteigert in Lev 20,18, wo nämlich sowohl der niddah als auch dem mit ihr verkehrendem Mann die Ausrottung aus der Mitte des Volkes angedroht wird; dies sind ähnliche Sanktionen wie sie für Ehebruch und Inzest gelten und stehen in krassem Gegensatz zu der sieben Tage währenden Unreinheit aus Lev 15!

Da es sich bei dieser Arbeit nicht um eine Exegese handelt, soll nun nicht näher auf textkritische Erklärungen für diesen scheinbaren Widerspruch eingegangen werden; festzuhalten ist aber, dass die niddah-Regeln auf zwei unterschiedlichen Kontexten fußen: (kultische) Reinheit/Unreinheit einerseits und Sexualgesetze andererseits.

Laut biblischem Befund war eine Waschung für die niddah nicht obligatorisch; ihre Unreinheit verschwand nach sieben Tagen von allein (Lev 15,28), allerdings sollte sie dem Priester am achten Tage zwei Vögel zur Opferung bringen, auf dass dieser ihre Unreinheit für sie sühne (Lev 15,29f).

Erst in rabbinischer Zeit wurden die biblischen Gesetze ausgearbeitet, indem der mikweh-Besuch am Ende der niddah (möglicherweise in Anlehnung an z.B. Lev 15,5), aber auch die sogenannten „weißen Tage“ eingeführt wurden; dabei handelt es sich um die sieben Tage, die sich an die (meist) fünftägige Dauer der Periode anschließen und an denen im Idealfall kein Blut mehr fließt, an denen die Frau aber – sozusagen als Vorsichtsmaßnahme – dennoch als unrein gilt.

Verschriftlicht wurden diese Ausarbeitungen in der Mischna und in beiden Talmudim. Die Verschärfung dieser Gesetze hatte notwendigerweise den Bau von mikwaoth zur Folge; die erste bekannte mikweh befindet sich im Hasmonäischen Palast in Jericho und stammt aus dem 2. Jh. v. u. Z..

Vorbemerkung

Zwecks besserer Lesbarkeit habe ich keinen hebräischen Schriftsatz verwandt, sondern die die dieser Sprache entstammenden Begriffe – sofern nicht im Deutschen ebenfalls gebräuchlich wie z.B. Tora – durchgehend klein und kursiv ausgeschrieben

Vorgehensweise

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der frauenspezifischen Unreinheit im Judentum, das heißt mit dem durch die Menstruation verursachten Zustand der niddah. Auch nach einer Geburt oder bei gewissen Krankheiten gilt der niddah-Status, doch soll das Hauptaugenmerk nicht auf diesen Formen liegen, sondern die durch Menstruation verursachte Unreinheit im Fokus dieser Arbeit stehen.

Nach der notwendig erscheinenden Klärung der diese Thematik betreffenden Begrifflichkeiten soll ein Überblick über den historischen Ursprung dieser Idee und der damit zusammenhängenden Bräuche gegeben werden; daran anschließend wird der Umgang mit niddah und mikweh im heutigen Judentum beispielhaft beschreiben. Im Anschluss daran soll das Thema in seinem Kern, nämlich seiner Bedeutung, betrachtet werden; dazu wurde eine qualitative und explorative Befragung von sechs Frauen durchgeführt und ihre Aussagen entsprechend ausgewertet.

Ein Fazit wird die Arbeit zusammenfassen und abschließen.

Mikweh

Als mikweh („Wassersammlung“) wird das zur rituellen Reinigung genutzte Wasserbassin bezeichnet. Ursprünglich hatte die Errichtung eines solchen Tauchbades sogar Vorrang vor der Errichtung einer Synagoge. Für eine solche Anlage gelten besondere Regeln: bei dem hier zur Verwendung kommenden Wasser muß es sich um sogenanntes majim chajim, also fließendes Wasser handeln. Dieses muß aus natürlichen Quellen (z.B. Fluss-, Regen- oder Meerwasser) stammen, und darf nicht gepumpt oder geschöpft worden sein. Die zum korrekten Vollzug der tewilah (Untertauchen) benötigte Wassermenge beträgt mindestens 800 Liter.

Damit nicht für jedermann direkt erkennbar ist, wer die mikweh wann besucht, ist sie – sofern möglich – in einem unscheinbaren Gebäude untergebracht. Tatsächlich gehen auch nicht nur Frauen in die mikweh, sondern alle Menschen, die zum Judentum konvertieren wollen, aber auch einige Männer vor Schabbatbeginn oder vor hohen Festtagen; dies ist nicht von der Halacha vorgeschrieben, wird jedoch zum Teil als Brauch praktiziert. Auch Tora-Schreiber gehen vor Beginn ihrer Arbeit in die mikweh, und Geschirr wird hier gekaschert, doch dies sei nur am Rande bemerkt.

Niddah

Der Begriff niddah bezeichnet die Gesetze, welche sich in der Regel auf eine menstruierende oder eine kürzlich entbunden habende Frau beziehen, den damit einhergehenden Status der „Unberührbarkeit“, die Zeit, in der dieser Status gilt sowie die sich in diesem Zustand befindende Frau selbst.

Die Etymologie des Wortes ist nicht ganz klar; die Wurzel lautet vermutlich entweder ndd (fliehen) oder ndh (verjagen). Da sich eine tatsächliche soziale Ausgrenzung der Frauen nicht nachweisen lässt (wie es die Worte nahelegen könnten), bezieht sich der Ausdruck möglicherweise nicht auf die Frau, sondern eher auf das vergossene Blut. Eine gewisse Separation oder zumindest „Sonderstellung“ der Betroffenen aber schwingt dennoch in dem Ausdruck niddah mit.

Tahara und Tumah

Der Begriff tahara wird gemeinhin mit „Reinheit“, tumah in der Regel mit „Unreinheit“ übersetzt. Dies ist zwar nicht falsch, kann im Deutschen allerdings leicht missverstanden werden, da beide Ausdrücke hier mit hygienischen Vorstellungen konnotiert sind. In dem Zusammenhang, in dem sie bei der dieser Arbeit zugrundeliegenden Thematik Verwendung finden, handelt es sich jedoch um Begriffe einer ausschließlich rituellen bzw. kultischen Konzeption, welche ihren Sitz im Leben vormals im Tempelkult hatte. Wenn diese Bezeichnungen in dieser Arbeit verwendet werden, sollten sie also in diesem ihrem ursprünglichen Sinne verstanden werden!

Ablauf

Sofern der Blutfluss also fünf Tage nach Beginn der Periode aufgehört hat, beginnen nun die sieben sogenannten und bereits oben erwähnten „weißen Tage“; möglicherweise lässt sich der Name von der weißen Unterwäsche ableiten, die viele Frauen während dieser Zeit zu Kontrollzwecken tragen.

Während der zwölf Tage der niddah gelten besondere Regeln beim Kontakt der menstruierenden Frau mit ihrem Mann; während theoretisch keinerlei körperlicher Kontakt zwischen beiden stattfinden sollte, sieht die heutige Praxis dagegen vielfach anders aus; es scheint, als haben viele (der nicht ganz orthodoxen) Paare ihre eigenen Regeln entwickelt: einige schlafen nicht in getrennten Betten, sondern nur unter zwei verschiedenen Decken, andere vermeiden lediglich intimere Kontakte wie Küsse und Zärtlichkeiten, wieder andere bedecken auch das Haar, benutzen kein Parfum und vermeiden das Singen in Gegenwart des Ehemannes, um in keinster Weise verführerisch zu wirken.

Alle Einschränkungen der niddah beziehen sich auf das Verhältnis eines Paares; eine menstruierende Frau kann wie gewohnt an Gottesdiensten etc. teilnehmen und auch die Torarollen berühren.

Sofern in den sieben „weißen Tagen“ tatsächlich keinerlei Blutfluss mehr stattfindet, ist danach der Zeitpunkt gekommen, eine mikweh aufzusuchen. Hier wird eine Gebühr bezahlt, deren Höhe variieren kann, die jedoch die Unterhaltskosten der Anlage nicht deckt; finanziell wird die mikweh von der Gemeinschaft getragen. Sofern man nicht bereits zuhause gebadet und sich vollkommen (Haare, Zähne, Nägel, etc.) gesäubert hat, muß man dies hier vor dem Untertauchen tun. Anschließend wird man von der Balanit, welche auf die korrekte Einhaltung der Regeln achtet, begutachtet und kann dann – nach Ablegen aller körperfremden Dinge, wie z.B. Schmuck – untertauchen. Auch dies muß nach bestimmten Vorschriften ablaufen, um als korrekt zu gelten (z.B. vollständiges Untertauchen) und wird entsprechend von der Balanit kontrolliert. Anschließend gilt die vormalige niddah wieder als tumah und der Zustand der Unreinheit ist vorbei.

Ursprüngliche Bedeutung

Ursprünglich mag bei der Vorstellung von der durch die Menstruation verursachten Unreinheit das Blut eine wichtige Rolle gespielt haben. Blut selbst ist in der Tora nicht unrein, muß aber als Träger des Lebens besonders behandelt werden (z.B. Lev 3,17) und hat eine besondere kultische Bedeutung (z.B. Lev 4; 5,9). Als „Symbol“ des Lebens steht es jedoch auch in engem Zusammenhang mit dem Tod: wo das Blut geht, geht auch das Leben, so dass die Menstruation als eine Art Ende eines Zyklus angesehen werden kann – wenngleich dieser freilich von neuem beginnen wird. Somit kann man die niddah als Zeit zwischen (symbolischem) Tod und (symbolischem) Neubeginn des Lebens ansehen. Möglicherweise liegt die damit einhergehende Unreinheit (bzw. das daraus folgende Verbot des sexuellen Kontakts) darin, dass während der „Todeszeit“ keine lebensfördernden bzw. -erneuernden Handlungen – also Zeugung – stattfinden sollen. Möglich ist aber auch, dass die Unreinheit durch diese (symbolische) Todesnähe verursacht wird – der Tod und Totes sind eine der Hauptquellen von Unreinheit.

Diese Vorstellungen stehen natürlich eher im Hintergrund der Gesetze in Levitikus, weswegen auch nur Vermutungen über die eigentlichen gedanklichen Ursprünge der niddah angestellt werden können.

Wie bereits gezeigt wurde, spielt das niddah-Konzept sowohl im Sexualleben als auch bei der kultischen Reinheit eine Rolle; beide Bereiche sind voneinander zu trennen, was daran deutlich wird, dass das kultische Konzept seit der Zerstörung des Tempels 70 n. u. Z. sozusagen „brach“ liegt. Dennoch, die eigentliche Bedeutung hat der niddah-Gedanke seit der Tempelzerstörung im Eheleben; das kultische Reinheitsdenken tritt zugunsten der Gesetze für die Zweierbeziehung in den Hintergrund. Hier ist jedoch Vorsicht geboten: vielfach wird über eine „Familiengesetzgebung“ gesprochen, doch dies ist mitnichten der Fall, da die Vorschriften aus Lev 15, welche von einer Übertragbarkeit der Unreinheit sprachen, dem kultischen Bereich entstammen; die Sexualgesetze aus Lev 18 und 20 dagegen sprechen nicht von einer Übertragbarkeit. Die Menstruation der Frau hat also lediglich auf das betroffene Ehepaar Auswirkungen und nicht auf Gegenstände oder andere Menschen!

Die dennoch seit dem 19. Jahrhundert gebräuchliche Bezeichnung taharat ha-mischpachah ist, so mutmaßt Fonrobert, „orthodoxer Angst vor Assimilation und Identitätsverlust“ zuzuschreiben.

Eine weitere Bedeutung, welche dem niddah-Konzept erst in neuerer Zeit zugekommen ist, ist das eines besonderen „Frauenrituals“; dies ist besonders in den USA und dort auch durchaus in konservativen und liberalen Kreisen und hier besonders bei jüngeren Frauen zu beobachten. Hier steht zunehmend die weibliche Spiritualität und die Rückbesinnung auf spezifisch Weibliches im Vordergrund. Auch das „Wohlfühlen“ der Frau bei ihrem Besuch in der mikweh ist wichtiger geworden; so erinnern viele mikwaot in Amerika mittlerweile schon beinahe an „Wellness-Center“.

Während also im konservativen und liberalen Milieu Spiritualität und Weiblichkeit eine wichtige Rolle spielen, handelt es sich bei der Einhaltung der niddah-Vorschriften für die Orthodoxie vor allen Dingen um eine Mitzwah von besonderer, ja, „essentieller“ Bedeutung. Allerdings schließt dies die ideelle Erweiterung der Rituale natürlich nicht aus.

Fragen und Ergebnisse

Folgende Fragen wurden 6 Jüdinnen im Alter von 34-62 Jahren gestellt:

  1. Wie alt sind Sie?
  2. Welcher religiösen Richtung fühlen Sie sich zugehörig?
  3. Welchem Beruf gehen Sie nach? / Sind Sie nachgegangen?
  4. Wie lange sind Sie verheiratet?
  5. Ist es Ihnen unangenehm, mit anderen Jüdinnen über niddah zu sprechen – wenn ja, wieso?
  6. Ist es Ihnen unangenehm, mit Außenstehenden über niddah zu sprechen – wenn ja, wieso?
  7. Seit wann praktizieren Sie niddah?
  8. Wurde niddah in Ihrer Familie praktiziert und wurden Sie entsprechend erzogen?
  9. Falls nein, von wem haben Sie diese Praxis gelernt?
  10. Welchen Einfluss hat die niddah auf Ihre Familie und Ihren Alltag?
  11. Welchen Einfluss hat die Einhaltung der niddah-Gesetze auf Ihre Identität als Jüdin?
  12. Was ist alles anders während der niddah?
  13. Verändert sich Ihre Körperwahrnehmung während der niddah?
  14. Warum machen Sie das?
  15. Welche Vorteile sehen Sie?
  16. Welche Nachteile sehen Sie?
  17. Haben Sie diese Praxis immer gleich bewertet oder hat sich Ihre Einstellung dazu nach Krisen o.ä. verändert – wenn ja, wie?
  18. Mit welchem Gefühl gehen Sie in die mikweh?
  19. Welchen Bezug haben Sie sonst zu Ihrer Religion und ihren Vorschriften?
  20. Warum lehnen Sie niddah ab?
  21. Gibt es weitere Punkte, die Ihrer Meinung nach bei einer Beschäftigung mit diesem Thema angesprochen werden sollten?

Ziel dieses Fragekatalogs war es, die Sichtweise der jeweils befragten Person möglichst gut verstehen und wiedergeben zu können; daher sollte nicht nur geklärt werden, wie niddah und der Besuch einer mikweh selbst rational und emotional gefasst werden, sondern auch, woher die Kenntnis von diesen Ritualen stammt, wie damit im Elternhaus umgegangen wurde sowie wie und warum sich die Bewertung dieser Praktiken verändert hat, bzw. wie diese Bewertung in die sonstige Sichtweise auf die Religion eingebettet ist.

Ergebnisse

Die Auswertung der oben genannten Fragen zeitigt – der geringen Anzahl an Befragten zum Trotz – einige interessante Ergebnisse.

So ist an erster Stelle festzuhalten, dass von den 6 befragten Personen lediglich eine tatsächlich die niddah-Konzeption gutheißt und befolgt. Dabei handelt es sich außerdem um die einzige Befragte, welche sich selbst als „orthodox“ betrachtet, während alle anderen, die sich (wenn auch nicht uneingeschränkt) dem konservativen Spektrum zuordnen, die Einhaltung der niddah aus verschiedenen Gründen nicht praktizieren:

  • Ablehnung des niddah-Gedankens (Unreinheitsgedanke, nötige Reinigung)
  • Ablehnung der niddah-Gesetze (Verzicht auf Körperkontakt)
  • keine grundsätzliche Ablehnung, aber mangelnde Praxiserfahrung durch nicht-religiöse Erziehung, bzw. Ablehnung des Aufwandes, der gerade hierzulande, wo die nächste mikweh durchaus weiter entfernt sein kann, betrieben werden müsste
  • Rebellion und Widerstand gegen die in frommen Kreisen als Selbstverständlichkeit empfundene Praxis sowie gegen die unhinterfragende Nachahmung derselben

Möglicherweise auffällig ist (hier z.B. wäre es höchst interessant gewesen, einen größeren Personenkreis befragen zu können), dass die zwei Frauen, welche auch religiös erzogen wurden, heute zu den niddah-Ablehnenden zählen.

Bedauerlicherweise kann nur eine Frau zu Wort kommen, wenn die Gründe für eine Befolgung der niddah-Regeln betrachtet werden: die entsprechende Dame äußerte als wichtigsten Grund die Konsequenz: wenn man so jüdisch ist, dass man die Kaschrut (Speisegesetze) einhält, dann dürfe man sich auch nicht vor den möglicherweise schwerer befolgbar erscheinenden niddah-Gesetzen drücken. Weiterhin aber sei der Beginn ihrer niddah-Praxis (vor 15 Jahren) auch Teil einer Suche nach den eigenen Wurzeln und Neugier gewesen.

Sehr interessant ist auch, dass ausnahmslos alle Befragten sofort bekannten, „religiös“, bzw. „sehr religiös“ zu sein – was jedoch nicht ausschließt, dass man bestimmte Vorschriften, wie in diesem Fall eben die niddah, ablehnt, weil man sie entweder aus konkreten Gründen nicht gutheißt oder weil man seinen Glauben einfach weniger praktisch orientiert sieht.

Eine andere Sichtweise wurde von der niddah-praktizierenden Person geäußert: die Vorschriften können auch als „roter Faden“ dienen und daher mit Freude befolgt werden.

Zum (freilich von der niddah unabhängigen) mikweh-Besuch dagegen können mehr Frauen aus eigener Erfahrung berichten: alle Befragten empfanden das Untertauchen hier als etwas originär Jüdisches und damit als identitätsstiftend. Gerade der Besuch nach der Periode wird als „geschützter Moment“ betrachtet, den man mit Vorfreude erwartet, aber auch der mikweh-Besuch nach schwerer Krankheit wird sehr positiv, nämlich dezidiert als Ende eines Abschnitts, bei dem „Unsicherheiten weggewaschen“ werden, gesehen.

Der Ablauf der niddah lässt sich leicht parallel zu van Genneps Übergangsritenschema betrachten:

  • Rite des séparation körperliche Trennung vom Ehepartner, dann aber auch die gründliche Reinigung des Körpers, Entfernung von allem an ihm haftenden Schmutz sowie weiteren körperfremden Dingen
  • Rite de marge Eintauchen in das Wasser der mikweh
  • Rite d\`agrégation die danach erfolgende Wiederaufnahme der körperlichen Beziehungen zum Partner

Vor- und Nachteile

Nachdem das Konzept der niddah nun auf seine historischen Wurzeln hin betrachtet und mehr oder weniger abstrakt erläutert wurde, sollen nun die Vor- und Nachteile, welche die Einhaltung dieser Gesetze für die Frauen haben können, kurz geschildert werden. Dieser Zusammenstellung liegen sowohl die jeweils genannte Literatur als auch die Befragung zugrunde.

Vorteile

Beziehung

Immer wieder erwähnen befragte Frauen die Vorteile, welche die Einhaltung der niddah für ihre Beziehung hat.

Einerseits steigert das Verbot des geschlechtlichen Umgangs die Freude der Partner nach Ende der Unreinheitsperiode aufeinander, so dass die Beziehung regelmäßig „erneuert“ wird und man „monatlich wiederkehrende Flitterwochen“ erleben kann. Der Talmud begründet die sieben „weißen Tage“ sogar mit der Absicht, das Interesse der Partner füreinander zu erhalten. Andererseits fördert das Verbot körperlicher Kontakte andere Kommunikationsformen zwischen den Partnern, so dass die körperliche Distanz zu einer emotionalen und geistigen Annäherung führen kann. Hinzu kommt, dass auch Männer über den biologischen Zyklus ihrer Frau bestens informiert sind und sich entsprechend auf sie einstellen können. Gleichzeitig können sich die Partner nicht gegenseitig als frei verfügbares „Eigentum“ und Gegebenes betrachten, sondern lernen eben durch das temporäre Verbot, den anderen zu berühren, gerade dessen Wert schätzen.

Schließlich empfinden viele Frauen die religiöse Dimension, die ihre Sexualität auf diese Weise erhält, als Bereicherung.

Jüdische Identität

Ein anderer häufig genannter Vorzug der Einhaltung der niddah-Gesetze ist der, dass gerade das Ritual des mikweh-Besuchs als „Verbindungsmöglichkeit“ zu anderen Frauen zu verschiedenen Zeiten an allen Orten empfunden wird. Greenberg zitiert einige Frauen, die dies beispielhaft verdeutlichen: „Als ich das erste Mal untertauchte, konzentrierte ich mich darauf, wie mich diese Handlung mit Generationen von Frauen verband.“ „Die Jüdinnen in Masada benutzten eine mikweh.“ „Jedes Mal wenn ich die mikweh benutze, fühle ich, dass ich zum Kern des Judentums und zu meiner eigenen Mitte zurückkehre.“ „Ich fühle mich all den Frauen, die ebenfalls die mikweh benutzen, nahe. Wir teilen alle Arten von unausgesprochenen Geheimnissen miteinander; immerhin zelebrieren wir unsere Körper, unsere Sexualität, unsere erneuerbaren Kräfte auf die gleiche Weise…“

Ähnlich äußerten sich auch zwei der von mir befragten Frauen.

Eigene Identität

Daneben gibt die niddah sowohl der Frau als auch dem Mann die Möglichkeit, sich auf sich selbst zu konzentrieren, ohne dass dies vom Partner als Zurückweisung verstanden wird. Damit einhergeht, dass man lernt, sich selbst zu beherrschen und seine Triebe zu kanalisieren. Außerdem kennt sich eine niddah praktizierende Frau mit ihrem eigenen Körper und ihren Zyklen gut aus, was ein diffuses, aber beruhigendes Gefühl, dass man Unregelmäßigkeiten und Krankheiten schnell bemerken würde, zur Folge hat. Zudem förderten die niddah-Regeln das bewusste und spirituelle Leben überhaupt.

Schließlich wird die niddah vielfach als erholsam empfunden; die mikweh wird zum „luxuriösesten Kurhaus der Welt“.

Nachteile

Beziehung

Die Nachteile stehen den Vorteilen wie ein Spiegelbild gegenüber; was die Eine als hilfreich empfindet, quält die Andere. So wird gerade das strikte Verbot des sexuellen Umgangs miteinander vielfach auch zum Problem; natürlich sehnt man sich manchmal nach körperlichem Kontakt, umso mehr, wenn man schwere Zeiten (Krankheiten, Todesfälle, etc.) oder glückliche Momente (Geburt, etc.) durchlebt. Interessanterweise äußerte sich zu diesem Punkt aber eine der von mir befragten Jüdinnen dahingehend, dass Umarmungen und andere tröstende Zärtlichkeiten für sie Teil dessen sind, was zur pikuach nefesch, also dem im Judentum als übergeordnetes Prinzip betrachteten „Erhalt des Lebens“, gehört und also Vorrang vor der Einhaltung der niddah-Regeln hat.

Auch die von einigen Frauen als „Flitterwochen“ bezeichnete Freude aufeinander wird nicht von allen so empfunden, denn auf der anderen Seite geht die Spontaneität verloren, wenn der Geschlechtsverkehr so fest geplant und selbstverständlich wird; zudem möchten viele Paare die kurze für die Sexualität zur Verfügung stehende Zeit bestmöglich nutzen, was mitunter als anstrengend erlebt wird.

Identität

Viele Frauen sind peinlich berührt, wenn andere Menschen von ihrer niddah erfahren, was sich aber natürlich nicht immer vermeiden lässt. Außerdem passt der eigene Zeitplan nicht zwangsläufig mit dem eigenen Zyklus und den Öffnungszeiten der mikweh überein, zumal dem Besuch dort ja in der Regel auch einige Vorbereitungen zuhause (Reinigung) vorausgehen. Daher ist die Einhaltung der niddah-Gebote für viele Frauen in erster Linie stressig, zeitintensiv und wenig erholsam. Hinzu kommt die Frage, ob zwei Partner in einer funktionierenden und gleichberechtigten Beziehung tatsächlich eine „verordnete“ Pause benötigen oder ob es nicht, wie eine der befragten Frauen sagte, eine Selbstverständlichkeit ist, dass man einander auch die von Zeit zu Zeit notwendige und gewünschte „Ruhe“ gewährt!? Dieselbe Person sieht sogar die weibliche Identität geschwächt, da eine als nötig vorgestellte Reinigung von Unreinheit, selbst wenn diese „nur“ kultischer Art ist, von ihr als demütigend empfunden wird.

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