Jom Kippur

von
Maren Plahuta

Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Katholisch-Theologische Fakultät
Abteilung für Feministische Theologie
SS 2007

Hauptseminar: Rein und unrein. Zur Welt des dritten Buches der Tora (Levitikus)
Dozentin: Prof. Dr. Marie-Theresia Wacker


Theorie und Praxis:
Zur Schwierigkeit einer ritualtheoretischen Erfassung des großen Versöhungstages

I. Einleitung

Der jüdische Philosoph Franz Rosenzweig wurde durch einen eher zufälligen Besuch einer kleinen orthodoxen Synagoge Berlins während des Jom Kippur von seinem festen Vorsatz abgebracht, zum Christentum zu konvertieren. Die Feierlichkeiten anlässlich dieses Tages müssen ihm als etwas erschienen sein, was singulär in der Religionslandschaft ist und auf das er nicht verzichten kann. Die Rituale des höchsten aller jüdischen Feiertage sind fester Bestandteil jüdischen Lebens und einzelne Elemente, wie der biblische Sündenbock, der zur Zeit des zweiten Tempels an diesem Tag in die Wüste gejagt wurde, sind auch im außer-jüdischen Bereich sprichwörtlich geworden.

Was aber macht das Besondere an Jom Kippur, dem großen Versöhnungstag aus und ist er wirklich so einzigartig, wie der Gläubige ihn wahrnimmt? Oder ist er vielleicht nur eine spezielle jüdische Ausprägung eines verbreiteten rituellen Schemas, durch das er sich erklären lässt? Liegt der Kern des Ritus außerhalb jeder begrifflichen Beschreibbarkeit oder lässt sich das Wesentliche auf ein wiederkehrendes Grundmuster reduzieren? Dieser Frage nach der Möglichkeit einer umfassenden wissenschaftlichen Erklärung des Jom Kippur durch die gängigen Ritualtheorien von Josef Franz Thiel bis Mary Douglas will die vorliegende Arbeit nachgehen. Wie sieht es aus mit der Kompabilität von (Ritual-) Theorie und (ritueller) Praxis? Kann ein solch komplexes Gebilde wie der große Versöhnungstag von einer Theorie allein erfasst werden oder fallen bei dieser Art der Betrachtung vielleicht gerade die entscheidenden Aspekte durchs Raster?

Um dieser Frage detaillierter auf den Grund gehen zu können, sollen vorab sowohl das Ritual des Jom Kippur in seiner Entwicklung von alttestamentlicher Zeit bis heute und die bekanntesten klassischen und modernen Ritualtheorien vorgestellt werden. Die anschließende Analyse wird dann versuchen eine Brücke zu schlagen – zwischen Theorie und Praxis.

II. Die Praxis: Jom Kippur

Um sich der Bedeutung des großen Versöhnungstages nähern zu können, ist zuerst ein kurzer Blick auf seinen Platz im Ablauf des jüdischen Jahres notwendig. Gefeiert wird Jom Kippur am zehnten Tischri, zehn Tage nach dem Neujahrsfest Rosch ha-Schana. Zwischen diesen beiden Feiertagen liegt eine Zeit der Buße und der Besinnung. Schon an Rosch ha-Schana selbst ist der Blick auf den kommenden Versöhnungstag gerichtet, denn schon an diesem Tag, dem „Tag des Gedenkens“, öffnen sich im Himmel die Bücher. In einem Buch sind die Namen und Taten der Menschen eingetragen, in ein anders wird Gott das Schicksal eines jeden Einzelnen für das nächste Jahr niederlegen. Zehn Tage lang hat der Mensch nun Zeit, Einfluss auf das zu nehmen, was über ihn in den Büchern stehen wird, welches Urteil Gott über ihn verhängen wird, denn erst am Jom Kippur schließen sich die himmlischen Bücher wieder. Um die Menschen auf ihre Chance aufmerksam zu machen, um sie wachzurütteln, wird an Rosch ha-Schana, in manchen Gemeinden auch schon in den Betstunden des Monats Ellul, das Schofar geblasen. Die kommenden zehn Tage bis zum Jom Kippur stehen dann unter dem Zeichen der Aussöhnung des Menschen mit sich selbst, mit Gott, aber vor allem mit seinen Nächsten. Streitigkeiten sollen beigelegt und Missverständnisse ausgeräumt werden. Wem von seinen Mitmenschen nicht verziehen wurde oder wer denen, die ihm Unrecht getan haben nicht vergibt, kann am großen Versöhnungstag auch keine Aussöhnung mit Gott erhoffen. Der Frieden der Menschen untereinander ist die Voraussetzung für den Frieden der Menschen mit Gott. Aus diesem Grund ist Jom Kippur nicht allein auf das Geschehen am zehnten Tischri selbst zu beschränken, sondern muss in seinem Kontext zu Rosch ha-Schana und den zehn Tagen der Buße zusammen gedacht werden.

Mit Jom Kippur, oder hebräisch Yom ha-Kippurim, schließt sich an die zehn Bußtage der höchste Feiertag des jüdischen Festkalenders an. Nach der Haggadah ist der zehnte Tischri der Tag, an dem Moses die Gesetzestafeln übergeben wurden und auch der Tag, an dem Abraham bereit war, seinen einzigen Sohn Isaak zu opfern. Es ist der einzige Festtag, der auch in der Diaspora nur eintägig begangen wird. De Vries bezeichnet Jom Kippur als den Sabbat des ganzen Jahres: wie an jedem Sabbat lege der Mensch an diesem Tag seinen „Herrscherstab“ nieder und werde sich seiner Rolle als Diener Gottes bewusst. Wenn der Mensch an Jom Kippur seine Arbeit ruhen lässt und vor Gott tritt, lägen zudem noch seine Taten und Untaten des vergangenen Jahres zur Prüfung vor. Im Unterschied zum wöchentlichen Sabbat ist der Versöhnungstag auch nicht vom Gedenken an die Fülle, die Gott den Menschen geschenkt hat, geprägt, sondern vom Fasten, Verzichten und der Hoffnung auf Gottes Gnade. Auch wenn dieser Tag ein Feiertag ist, an dem alle Arbeit untersagt ist, ein Schabbat-Schabbaton, so soll doch die Seele der Menschen betrübt sein. Was genau damit gemeint ist, wird in der Tora selbst nicht näher erklärt, doch Passagen anderer Schriften sprechen explizit vom Fasten. Fasten meint an Jom Kippur neben dem völligen Verzicht auf Essen und Trinken für ca. 25 Stunden auch die Enthaltung von Körperpflege, das Nichtbenutzen von Lederschuhen und den Verzicht auf Geschlechtsverkehr. Waschen ist nur in dem Maße erlaubt, wie es dazu dient, die Mindestanforderungen von Hygiene zu gewährleisten. Anstatt der Lederschuhe werden an diesem Tag Filzpantoffeln getragen. Das Gebot, am Versöhnungstag keine Lederschuhe zu tragen, ist das einzige, was auch schon für jüdische Kinder gilt, die von den sonstigen Enthaltungen ausgenommen sind.

Da es in dieser Analyse um die ritualtheoretische Erfassung des Jom Kippur geht, soll im Folgenden der Ritus dieses Tages nachvollzogen werden. Ihren Ausgang wird diese Betrachtung bei den biblischen Grundlagen nehmen, um dann die Entwicklung des großen Versöhnungstages durch die jüdische Geschichte hindurch bis in die Gegenwart zu verfolgen.

Die biblische Basis: Leviticus 16

Die biblische Grundlage des Jom Kippur zeigt zunächst ein paradoxes Bild: Leviticus 16 liefert zwar eine genau Darstellung dessen, was an diesem Tag passieren soll, nennt jedoch den Namen Yom ha-Kippurim nicht; dieser fällt erst später, in Lev 23. Bei der herausragenden Bedeutung des Jom Kippur für den jüdischen Jahreszyklus ist es des Weiteren umso erstaunlicher, dass dieser Tag in den anderen Festkalendern der Bibel überhaupt nicht erwähnt wird. Für Galley ist vor allem der Sündenbock-Ritus ein Indiz dafür, dass es sich beim Jom Kippur dennoch um ein sehr altes Fest mit lang zurückreichender Tradition handelt. Interessant ist auch, dass die Beschreibung des Versöhnungstag-Rituals in Lev 16 nicht im Kontext der anderen Opfer- und Festgesetzte steht, sondern als Konsequenz des Todes zweier Söhne Aarons im Tempel eingeführt wird. Dass dieses Ritual jedes Jahr einmal wiederholt werden soll, erfährt der Leser erst ganz am Schluss in knapper Form. Wie auch Jürgens feststellt, erschließt sich das in Leviticus 16 beschriebene Ritual dem vom westlichen Denken geprägten Leser nur sehr schwer. Um sich klar zu machen, welche Bedeutung der Jom Kippur in sich trägt, ist jedoch ein Blick auf diesen Text unerlässlich.

Das Ritual besteht aus zwei Komplexen: im ersten Teil geht es um ein Blutritual zur Reinigung des Heiligtums, der Priesterschaft und der Gemeinschaft Israels. Da das Volk Israel in der unmittelbaren Nähe des Heiligen lebt, seit Gott seine Wohnstatt im Offenbarungszelt genommen hatte, ist es in besonderer Weise verpflichtet, ebenfalls heilig zu sein, damit die lebensspendende Kraft der Gegenwart Gottes nicht ins Gegenteil umschlägt. Die Sammlung von Reinigungsvorschriften im Buch Leviticus zeigt aber, dass die Möglichkeit, dass Israel auch mit Unreinheit in Kontakt kommt, bewusst mit einbezogen wird. Solche Verunreinigungen können ohne Zutun des jeweiligen Menschen geschehen, wie bei Geburt und Menstruation, aber auch zum Beispiel durch die Aufnahme ungeeigneter Nahrung. Nur wenn alle diese verborgenen und offenkundigen Unreinheiten, die sich im Laufe des Jahres im Volk Israel ansammeln, immer wieder gesühnt werden, ist nach der priesterlichen Theologie des Buches Leviticus ein Leben in der Nähe des Heiligen möglich. Zum Zweck dieser Sühne werden am Versöhnungstag ein Jungstier und ein Ziegenbock geschlachtet, deren Blut Aaron bis ins Allerheiligste trägt und dort verspritzt. Das Blut, als ein von Gott selbst gegebenes Sühnemittel, hat, wenn es auf den Altar und die Deckplatte, den Ort der Gegenwart Gottes gespritzt wird, eine sühnende Wirkung für die gesamte Gemeinschaft Israel. Gleichzeitig wird mit diesem Blutritus der Tempel, der Ort der höchsten Reinheit, von allen störenden und gefährlichen Unreinheiten befreit, so dass man hier ein Indiz für die Legitimation der Theorie von Mary Douglas sehen kann: die Ordnung wird wieder hergestellt, indem das, was nicht in den Tempel gehört, von dort entfernt wird. So soll mögliches Unheil von Israel abgehalten und ein Zustand erreicht werden, in dem die Menschen gefahrlos in der Nähe Gottes leben können.

Den zweiten Teil des Versöhnungstages bildet das so genannte Sündenbockritual. Gemeinsam mit dem Ziegenbock, der bereits geschlachtet wurde und dessen Blut Aaron ins Heiligtum gebracht und dort verspritzt hat, ist noch ein zweiter Bock zum Offenbarungszelt geführt worden. Per Los wurde entschieden, welcher von ihnen „für den Herrn“ ist und geschlachtet wird und welcher „für Asasel“. Der Bock, auf den das Los „für Asasel“ fiel, wird nun mit den Sünden des Volkes Israel beladen, indem Aaron seine Hände auf den Kopf des Tieres legt. Anschließend wird er in die Wüste getrieben, wobei er die Sünden mit sich fortnimmt, sie also aus der Gemeinschaft entfernt. Der Name Asasel bezeichnet hier in Lev 16 ursprünglich einen Wüstendämon, der, im Gegensatz zu JHWH, das Chaos und den Tod repräsentiert. Die Sünde und die Unreinheit als Manifestationen des Chaos werden durch den Ziegenbock demnach wieder an ihren Ursprungsort zurückgetragen. Indem Asasel das, was zu ihm gehört, wieder bekommt, wird also auch hier, ganz im Sinne des Ansatzes von Douglas, die richtige Ordnung der Dinge wieder hergestellt.

Dieser sehr auf den Tempel zentrierte Ritus musste nach der Zerstörung des Heiligtums 70 n. Chr. völlig neu definiert werden, um seinen Sinn und seine Berechtigung im jüdischen Kalender zu behalten. Es gab nun kein Allerheiligstes mehr, das es zu reinigen galt, keinen Ort der Gegenwart Gottes, an dem die Sünden Israels gesühnt werden konnten. Doch obwohl Israel nun nicht mehr in der unmittelbaren, räumlichen Nähe Gottes lebte, erhielt sich andererseits das Bewusstsein, auf die ständige Versöhnung und Reinigung angewiesen zu sein. Beigetragen zu diesem Bewusstsein hatten vor allem die Niederlagen der jüdischen Aufstandsbewegung, die großen Verluste in der Bevölkerung und die Zerstörung des zweiten Tempels, so dass sich die rabbinischen Theologen vor die Aufgabe gestellt sahen, den Jom Kippur-Ritus an die Lehrhäuser und Synagogen zu adaptieren. Zu diesem Zweck überführten sie die Handlungen des Priesters im Tempel von der praktischen auf die narrative Ebene: da der Tempelritus nun nicht mehr vollzogen werden konnte, wurde die Avoda, die vom Priester auszuführende Handlung, im feierlichen Zusatzgottesdienst des Jom Kippur rezitiert und an besonders bedeutsamen Stellen szenisch dramatisiert. Sowohl in der Mischna, als auch im Talmud, dort besonders im Traktat Joma, sind detaillierte und emotional sehr aufgeladene Schilderungen der Avoda zu finden, wie sie, der Erinnerung der Rabbinen zufolge, zur Zeit des Zweiten Tempels ausgeführt wurde. Parallel zu dieser narrativen Ausgestaltung veränderte sich auch die Teilnahme der jüdischen Gemeinde an diesem Fest. Als Folge des tiefen Bewusstseins vieler Juden, auf die Entsühnung durch Gott angewiesen zu sein, intensivierten sich auch die Bußübungen des ganztägigen Gebets und das Fasten. So trat nach dem Verschwinden des priesterlichen Rituals die Verantwortlichkeit des Einzelnen für seine Entsühnung mehr in den Vordergrund.

Jom Kippur heute: Rituale und Bräuch

Wie alle jüdischen Feiertage beginnt auch Jom Kippur bereits am Abend des Vortags. Doch nicht erst mit dem Abendgottesdienst hält der große Versöhnungstag Einzug in die Haushalte. Bereits beim Nachmittagsgebet in der Synagoge wird zum ersten Mal das für Jom Kippur so wichtige Sündenbekenntnis, das Vidui, gesprochen. Die alphabetische Auflistung der Sünden geht noch auf die Zeremonie im Tempel zurück, wurde aber in nachtalmudischer Zeit deutlich erweitert. Die Aufzählung der Verfehlungen reicht von Treulosigkeit bis hin zu Irrtum und bezieht sich keineswegs nur auf das einzelne Individuum, sondern auf Israel als Ganzes, welches Gott um Verzeihung bittet.

Nach dem Nachmittagsgebet beginnt daheim auch die Zeit der körperlichen Vorbereitung auf den Versöhnungstag. Körperliche Reinigung, oft auch das Schneiden der Haare, und eine letzte Mahlzeit bereiten den Gläubigen auf das Fasten vor. Zwei Kerzen werden entzündet und gesegnet. Eine von ihnen verbleibt im Haus, die andere nimmt man mit in die Synagoge zum Andenken der Verstorbenen. Denn mehr noch als das Neujahrsfest hat Jom Kippur sein Zentrum in der Synagoge, die seit Rosch ha-Schana ganz in weiß geschmückt ist. Und auch die Kleidung der Gläubigen ist an diesem Tag weiß, Kantor und Lehrer tragen an Jom Kippur schon den weißen Kittel, den sie einst als Totenkleidung tragen werden. Gedanken an den Tod, sowohl an den bereits verstorbener Mitmenschen aber auch an den eigenen, begleiten die Gläubigen an diesem Abend stärker als an anderen Tagen zur und in der Synagoge.

Der nun beginnende Abendgottesdienst wird nach dem ausschließlich zu dieser Gelegenheit zitierten Gebet Kol Nidre genannt. Der Ursprung dieses Gebets, das an Jom Kippur dem Abendgebet vorangestellt wird, liegt in talmudischer Zeit. Der Inhalt diente antijüdischen Autoren immer wieder als scheinbarer Beleg dafür, dass das Wort eines Juden nichts wert sei, da im Kol Nidre alle uneingelösten Eide und Versprechungen, vorschnell oder unabsichtlich abgegeben, für ungültig erklärt werden. Dass eine solch polemische Interpretation nicht haltbar ist, wird schon durch das oben beschriebene Verständnis vom Jom Kippur deutlich, dem eine Versöhnung mit den Mitmenschen vorangehen muss: die Gelübde, die im Kol Nidre für ungültig erklärt werden, beziehen sich alleine auf das Verhältnis zwischen Mensch und Gott. Bevor der Kantor jedoch die bekannte Melodie anstimmt und anschließend drei Mal wiederholt, ruft ein Kollegium aus Vorbeter, Rabbiner und einem weiteren angesehenen Gemeindemitglied alle Anwesenden zum gemeinsamen Gebet auf. Denn an Jom Kippur ist es dem Reinen erlaubt, neben dem Sünder zu beten, dem vermeintlich Schuldlosen neben dem, der sich seiner Verfehlungen sehr bewusst ist. Die Formel, mit der diese Erlaubnis ausgesprochen wird, wurde mit kleinen Variationen fast überall in der Diaspora übernommen. Ein weiterer fester Bestandteil des Abendgottesdienstes wie auch des darauf folgenden Tages ist das oben bereits erwähnte Sündenbekenntnis, welches vierundvierzig Vergehen auflistet und im Laufe des Jom Kippur-Rituals zehn mal gesprochen wird. Diese Zehnzahl soll anknüpfen an den Versöhnungstag zur Zeit des Tempels, an dem, und nur an dem, der Priester genau zehn Mal den Namen Gottes aussprach. In vielen Gemeinden wird am Abend des Jom Kippur gepredigt, während an allen übrigen Tagen des Jahres Predigten im synagogalen Gottesdienst eher unüblich sind. Nach Abschluss des Abendgottesdienstes bleibt die Synagoge in dieser Nacht offen und beleuchtet. Es steht jedem frei dort zu verweilen, Psalmen zu lesen oder zu beten. In orthodoxen Gemeinden geht der Abendgottesdienst ohnehin oft unmittelbar ins Morgengebet über.

Der eigentliche Tag des Jom Kippur beginnt bereits in den frühen Morgenstunden. Neben der Lesung spezieller Toraabschnitte wird im Morgengottesdienst vor allem der Verstorbenen gedacht. Bei dem Gebet Jiskor, das zu diesem Anlass gesprochen wird und das den Gottesdienst beendet, verlassen die Gemeindemitglieder, deren Eltern noch leben, die Synagoge. Den eigentlichen Höhepunkt des Festtages bildet jedoch der Zusatzgottesdienst Mussaf, in dessen Mittelpunkt die Rezitation der Avoda steht. Von sechs Personen wird Lev 16 in einem nur für hohe Feiertage gebräuchlichen Singsang vorgetragen, ein siebtes Gemeindemitglied liest Jesaja 57, 14-21 vor, in dem falsches Fasten verurteilt und Menschlichkeit gelobt wird. Während des Mussaf-Gebets vollzieht sich ein in der Synagoge sonst unübliches Ritual: wie schon am Neujahrstag kniet die ganze Gemeinde vor dem offenen Toraschrank nieder. Auch mit dieser Geste wird die Erinnerung an die Tempel-Zeremonie bewahrt, von der überliefert ist, dass die Gemeinde sich auf den Boden warf, wenn der Hohepriester aus dem Allerheiligsten kam und den Namen des Ewigen aussprach. Heute wiederholt die Gemeinde an Jom Kippur das Niederwerfen bei jeder Erwähnung dieses Ereignisses drei Mal.

Um die Zeiten zwischen den festen Gebeten zu füllen und dem Bedürfnis vieler gerecht zu werden, den ganzen Tag in der Synagoge zu verbringen, hatte man schon früh eine Lösung gefunden: Pijutim, liturgische Gedichte, die zum Teil eine eigene Melodie erhielten, werden rezitiert und überbrücken so die Zeit bis zum Beginn des Nachmittagsgebets, der Mincha, in dessen Verlauf die Tora zum zweiten Mal zum
Podium gebracht und entrollt wird. Drei Gemeindemitglieder werden nach vorn gebeten, von denen zwei aus Lev 18 vorlesen und ein Drittes die Geschichte des Propheten Jona. Im Zentrum des Nachmittagsgottesdienstes steht im westeuropäischen Ritus das Gedenken an die jüdischen Märtyrer, zum Beispiel an die zehn Gelehrten, die im 2. Jahrhundert n. Chr. von den Römern gefoltert und ermordet wurden. Aber auch das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus hat hier seinen Platz. In die vierte Amida werden Bitten um Vergebung, Selichot, eingefügt, von denen manche noch aus der Zeit der Kreuzzüge stammen. Als Zeichen der Versöhnungsbedürftigkeit Israels wird an Jom Kippur jedes der festen Gebete mit solchen Selichot beendet.

Mit der erneuten Wiederholung des Sündenbekenntnisses schließt die Mincha und geht dann nahtlos in den letzten Gottesdienst des Tages über. Dieser Schlussgottesdienst ist, wie schon sein Name Ne’ila („Schließung“) andeutet, der Zeitpunkt, an dem die himmlischen Bücher, die Pforten des Himmels, sich wieder schließen. Mit großer Inbrunst werden nun noch einmal Bittgebete vorgetragen und an Gottes Barmherzigkeit appelliert. Mit dem Schma Jisrael und dem Erklingen des Schofars endet der große Versöhnungstag. Nun hat sich entschieden, ob der einzelne für das nächste Jahr in das Buch der Lebenden oder der Toten geschrieben wurde. Der abschließende Wunsch der Gemeinde, die nie erlöschende Hoffnung, ist ein Ausblick in die Zukunft: „Nächstes Jahr in Jerusalem!“

Die Theorie: Von Thiel bis Douglas

Nun war im Vorangehenden schon häufig vom ‚Jom Kippur-Ritual’ und von bestimmten ‚Riten’, die an diesem Tag vollzogen werden, die Rede. Da die vorliegende Arbeit den Versöhnungstag anhand der zentralen religionswissenschaftlichen Kategorie des Rituals beleuchten möchte, sollen diese Begriffe nicht unkommentiert stehen bleiben. Um Paradigmen für die folgende ritualtheoretische Analyse zu bekommen, soll nun im nächsten Schritt der Begriff ‚Ritual’ näher beleuchtet und anschließend die wichtigsten und für die spätere Betrachtung relevanten Ritualtheorien vorgestellt werden, ohne dass dabei auch nur annähernd der Anspruch auf Vollständigkeit erhoben wird.

Zuallererst ist es sinnvoll, zwischen den Begriffen ‚Ritus’ und ‚Ritual’ zu differenzieren, auch wenn beide in der deutschen Sprache seit dem 18. Jahrhundert synonym gebraucht werden: ‚Ritus’ soll hier den kleinsten Bestandteil heiliger Handlungen bezeichnen, während ‚Ritual’ für das sich aus einzelnen Riten aufbauende Gesamtgeflecht steht. Das Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe definiert Ritual als „Oberbegriff für religiöse Handlungen, die zu bestimmten Gelegenheiten in gleicher Weise vollzogen werden, deren Ablauf durch Tradition oder Vorschrift festgelegt ist, und die aus Gesten, Worten und dem Gebrauch von Gegenständen bestehen mögen“. Der Begriff ‚Ritual’ erfasst dabei sowohl die wirklich stattfindende Handlung, als auch die für sie maßgebenden Regeln. Bis heute nicht endgültig geklärt ist die etymologische Herkunft des lateinischen Wortes ‚ritus“ oder ‚ritualis’. Eine der beiden Möglichkeiten, die immer wieder in Betracht gezogen werden, ist die Ableitung vom Sanskrit-Wort ‚rta’, welches übersetzt ‚Ordnung’ oder ‚Gesetzmäßigkeit’ bedeutet. Rituelles Handeln wäre also das Handeln gemäß einer Ordnung. Diese Möglichkeit scheint vor allem auch deshalb attraktiv, weil sich hier offensichtliche Anknüpfungspunkte zu Mary Douglas’ Theorie ergeben würden: das ordnungsgemäße, rituelle Verhalten strukturiert das Chaos der Welt und verwandelt Unordnung in Ordnung. Das Ritual wäre also eine dynamische Erweiterung des Douglasschen Schemas. Eine andere Möglichkeit ist jedoch, dass sich ‚ritualis’ vom indogermanischen Wort ‚ri’ ableitet, welches in etwa die Bedeutung ‚fließen’ gehabt haben dürfte und damit auf einen Verlauf, eine Handlungsabfolge hinweisen könnte.

Lange wurde das Wort ‚Ritual’ nur in der Sakralsprache gebraucht, so zum Beispiel in der lateinischen Kirchensprache, wenn es um den christlichen Gottesdienst ging. Erst der Psychologe Freud und der Zoologe Huxley begannen, den Begriff zu säkularisieren, indem sie ihn für Zwangshandlungen neurotischer Patienten bzw. für das angeborene Signalverhalten von Tieren gebrauchten. Diese Erweiterung des Ritualbegriffs hat in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts zu wachsendem Interesse der Religionswissenschaft und besonders der Religionsethnologie an dieser Kategorie geführt. Mit der Säkularisierung war jedoch auch der Weg geebnet zu einem oft schon inflationären Gebrauch des Wortes in der Umgangssprache.

Für die Analyse des Jom Kippur-Rituals ist ein weiterer Punkt von großer Bedeutung: die Verbindung zwischen Ritualen und Mythen. Hock unterscheidet in seiner „Einführung in die Religionswissenschaft“ zwischen diesen beiden Kategorien, weil die Mythen auf der verbalen, die Riten aber auf der praktischen Ebene angesiedelt sind. Dies bedeutet jedoch keine strikte Trennung zwischen den beiden. Ganz im Gegenteil: Mythos und Ritual verweisen, dass wird in der Analyse des Jom Kippur deutlich werden, aufeinander. In ihrer Bezugnahme aufeinander lassen sich vier Grundtypen unterscheiden: die Dramatisierung des Mythos durch das Ritual, die Rezitation des Mythos im Rahmen des Ritualvollzugs, die Auslegung eines Rituals durch einen Mythos und die Begründung des Vollzugs eines Rituals durch einen Mythos.

Kennzeichnend für Rituale ist vor allem ihre Stereotypie. Diese manifestiert sich unter anderem im häufigen Wiederholen gleich bleibender sprachlicher Äußerungen und Gesten. Die im Ritual gesprochene Sprache ist keine spontane, sondern eine von festen Redewendungen geprägte. Auf Grund dieser Formalisierung können Handlungen und Äußerungen im Ritual nur bedingt als spontane Gefühle interpretiert werden. Viel eher sind sie „gebändigtes Gefühl“, in dem die ‚richtige’ Einstellung zum Gegenstand des Rituals musterhaft gezeigt wird. Auffälliges Charakteristikum vieler Riten ist außerdem die aufwendige Ausgestaltung jedes einzelnen Elements. Jede Handlung, jede Äußerung kann in dramatischer Weise gestaltet werden und die lange Dauer, sowie die beeindruckende Pracht des Gesamtrituals steigern in den Augen der Teilnehmer oft dessen Bedeutung. An Hand des Teilnehmerkreises lassen sich auch schon erste, einfache Typisierungen von rituellen Handlungen vornehmen: je nachdem, ob ein Ritus im primären – engen – oder im sekundären – weiteren- sozialen Radius der Teilnehmer stattfindet, ob es sich also eher um private oder öffentliche Rituale handelt, variiert meist auch die Zielsetzung der rituellen Handlung. Während öffentliche Großkulte meist auf das Wohl der gesamten Gemeinschaft, z.B. eines Staates, abzielen, stehen bei Kulten im privaten Kreis häufig individuelle Wünsche wie Gesundheit, Fruchtbarkeit oder Schutz in bestimmten Situationen im Vordergrund. Die verschiedenen Zielsetzungen, die ein Ritual haben kann, hat Wallace versucht zu systematisieren, indem er alle rituellen Handlungen nach ihrem intendierten Ziel fünf verschiedenen Klassen zuordnete. Er unterschied zwischen technologischen Ritualen, die der Umweltbeherrschung dienen, therapeutischen, bzw. antitherapeutischen Ritualen, die die Gesundheit eines anderen verbessern oder verschlechtern sollen, sozialen Ritualen, die Empfindungen und Werte einer Gesellschaft prägen, sowie Erlösungsrituale und Revitalisierungen, die das gesamte Sozialsystem wieder ins Gleichgewicht bringen sollen. Wallace war es auch, der versuchte, die kleinsten Grundbestandteile ritueller Handlungen aufzulisten, aus denen sich alle Rituale in unterschiedlichen Kombinationen zusammensetzten.

Eine andere Typologisierung von Ritualen hat der Ethnologe Josef Franz Thiel vorzunehmen versucht, indem er vier Grundtypen ritueller Handlungen unterschied. Auch er orientierte sich bei seinem Schema an der Frage ‚Welches Ziel soll mit einem bestimmten Ritual erreicht werden?’. Das Ergebnis seiner Arbeit unterscheidet sich jedoch in augenfälliger Weise von dem Wallace: die vier Grundtypen Thiels sind wesentlich abstrakter und deshalb universaler gehalten, als die von Wallace. Die erste seiner vier Gruppen bilden die Apotropäischen Riten, deren Name sich von dem griechischen Wort apostrépein („abwenden“) ableitet und die dazu dienen sollen, drohendes Unheil vom Einzelnen oder von einer sozialen Gruppe abzuwenden. Im Gegensatz dazu besteht die Aufgabe der Eliminationsriten darin, bereits in die Gemeinschaft eingedrungene Bedrohungen zu vernichten oder „zumindest zu bannen und aus der Gemeinschaft zu entfernen“. Purifikationsriten sollen Menschen oder Dingen in einen Status der kultischen Reinheit versetzten und es ihnen damit ermöglichen, bestimmte Dinge zu empfinden oder Handlungen auszuführen. Die größte und best erforschteste Gruppe von Ritualen ist aber wahrscheinlich die der Übergangsriten. Allein durch die vielen Anlässe, zu denen diese stattfinden können, ist dieser vierte Grundtyp nach Thiel enorm heterogen und umfangreich. Übergangsriten können zum Wechsel der Jahrszeiten ebenso stattfinden, wie zum räumlichen Wechsel. Sie begleiten das menschliche Leben und teilen es in Abschnitte ein, indem sie zwischen bestimmte Alters-, Berufs- und Standesgrenzen eine Phase des Übergangs einfügen. Dass gerade dieser Ritentypus in der Forschung viel Aufmerksamkeit erfahren hat, ist vor allem Arnold van Gennep zu verdanken, der sich in seinem gleichnamigen Hauptwerk mit den rites de passage beschäftigte. Van Gennep begriff die ständigen Wechsel, die jedes Mitglied einer Gemeinschaft auf den unterschiedlichsten Ebenen durchläuft, von Ortswechseln bis hin zu Veränderungen in der Berufsgruppenzugehörigkeit, als eine Gefahr für die Ordnung des Soziallebens. Aus diesem Grund werden diese Veränderungen von bestimmten Riten begleitet, deren Aufgabe es ist, Störungen durch eine Steuerung und Kanalisierung dieser Prozesse abzuschwächen. Ihre Funktion ist also „die Kontrolle der Dynamik des sozialen Lebens.“ Diese Funktion erfüllen sie durch ihre Dreiphasenstruktur: die Trennungsphase soll vom alten Zustand oder Ort lösen, die Schwellenphase ist gleichsam ein Schwebezustand zwischen den Welten und in der Angliederungsphase findet die Vereinigung mit dem Neuen oder die Wiedervereinigung mit dem Alten statt. Bei genauer Analyse sei es sogar möglich, so van Gennep, die Übergangsriten in Trennungsriten (rites de séparation), Umwandlungsriten (rites de marge) und Angliederungsriten (rites d’ agrégation) zu gliedern. Sie alle können von komplexen rituellen Handlungen begleitet werden. In der Phase der Trennung steht oft der symbolische Tod der alten Existenz, der Untergang des alten Status im Mittelpunkt. Die häufig chaotische rituelle Dramatisierung der Verwandlungsphase findet dann anschließend in der Angliederungsphase zu einer Ordnung zurück. Dazu werden Praktiken vollzogen, die drauf zielen, die Gemeinschaft als Ganzes wieder neu zu begründen. Für denjenigen jedoch, der an einem solchen Ritual teilnimmt, bilden die einzelnen – auf wissenschaftlicher Ebene erkennbaren – Phasen eine Einheit. Die Kraft des Übergangsritus beruht gerade auf dem Zusammenspiel aller Elemente.

Die französischen Kollegen van Genneps, unter ihnen auch Marcel Mauss, ein Neffe Durkheims, unterschätzten die Bedeutung des Werkes „Les rites des passage“ lange Zeit. Wesentlich positiver wurde van Genneps Hauptwerk von Anfang an in Großbritannien und den USA aufgenommen, wohl auf Grund der dort stärker empirisch ausgerichteten Wissenschaftstradition. Dies ist möglicherweise einer der Gründe dafür, dass die Gedanken aus den „Rites de Passage“ lange Zeit vor allem durch die Vermittlung Viktor Turners in die Wissenschaftsdebatte eindrangen und diese anregten. Der aus Schottland stammende Sozialanthropologe hat den Ansatz van Genneps jedoch nicht nur aufgenommen, sondern auch an entscheidenden Stellen weiterentwickelt. Aus der strukturfunktionalistischen Schule kommend, entfernte sich Turner im Laufe seiner Studien vor allem mit den Ndembu immer mehr von deren Ansatz. Die soziale Funktion eines Rituals, die im Strukturfunktionalismus als Dreh- und Angelpunkt der Analyse gedient hatte, verlor zunehmend an Bedeutung für Turners Überlegungen. Wahrscheinlich waren es auch die persönlichen Erfahrungen, die er bei den Ndembu sammelte, die ihn zu dem Schluss brachten, das Ritual sei wesentlich Offenbarung. Es entsteht aus einer gesellschaftlichen Krise, die ihrerseits aus einem Konflikt zwischen der bestehenden Ordnung und den auseinanderstrebenden Wünschen der Individuen entstanden ist. Im Ritual bekommen die Mitglieder einer Gesellschaft in überschaubarem Rahmen die Möglichkeit, Machtverhältnisse und Sozialordnung auf den Kopf zu stellen und die Welt für einen Moment neu zu erschaffen. Chaos und Anarchie treten an die Stelle der üblichen Ordnung. Turner meinte, eine dramenähnliche Inszenierung dieser Rituale erkennen zu können und nannte solche Vorgänge deshalb „social drama“. Dadurch, dass die Zerstörung der Ordnung ihren festen Platz in der Ordnung selbst bekommt, können Aggressionen kanalisiert entladne werden und die Gesellschaft kann sich im Ritual stetig erneuern. Seinen Höhepunkt findet diese dramatische Inszenierung laut Turner – und hier greift er auf van Gennep zurück – in der Schwellenphase. Turner nennt sie die ‚liminale Phase’ und legt darüber das „ethnologische Vergrößerungsglas“ Die Liminalität ist der Moment, in dem die Struktur aufgehoben ist und in der nicht selten eine Umkehrung des üblichen Verhaltens stattfindet. In dieser Phase findet zum Beispiel bei Initiationsriten die Verwandlung der Teilnehmenden statt: eingeleitet durch Todessymbolik und beendet durch Geburtssymbolik bildet die liminale Phase einen Schwebezustand zwischen den Welten. In diesem Zustand bildet sich unter den Teilnehmenden eine Gemeinschaft der besonderen Art: die ‚communitas’. In dieser Gemeinschaft wird die Antistruktur – der Gegenpol zur normalen Ordnung – erfahren und damit erneut der Grundstein für gesellschaftliche Stabilität gelegt.

Zu den Ritualtheoretikern, die in jüngerer Zeit viel versprechende Analyseansätze entwickelt haben, gehört neben Cliffort Geertz vor allem auch Mary Douglas. Wie oben bereits deutlich wurde, ist ihr Ansatz vor allem für die Betrachtung des biblischen Jom Kippur-Rituals interessant und deshalb soll auch ihre Theorie hier kurz vorgestellt werden. Douglas verknüpft in ihrem Gedankengang den Begriff des Rituals eng mit dem der Ordnung, bzw. Reinheit. Bestimmte rituelle Handlungen – und dazu zählen hier auch Ge- und Verbote, die im Zusammenhang mit diesen stehen – mögen irrational, veraltet oder gar diskriminierend erscheinen. Mary Douglas ist jedoch davon überzeugt, dass sie nur deshalb so wirken, weil das Ordnungsschema, an dem sie sich orientieren, heute nicht mehr bekannt und relevant ist. Rituale und rituelle Vorschriften dienen dazu, Ordnung herzustellen oder zu erhalten. Ordnung entsteht dadurch, dass alles an dem ihm angemessenen Ort in der angemessenen Menge ist. Ist dieser Zustand gestört, ist es Aufgabe des Rituals diesen Missstand zu beheben und die ‚natürliche’ Ordnung der Dinge wieder herzustellen. Mary Douglas hat dies mit engem Bezug auf den Begriff der Reinheit erarbeitet: Dinge, die nicht an dem für sie angemessenen Ort sind, sind unrein. Was das nun konkret für Dinge sind, hängt von dem zugrunde liegenden Ordnungsschema ab, welches von Kultur zu Kultur variieren kann.

Hier soll der Schwerpunkt jedoch nicht so sehr auf dem Gedanken der Reinheit liegen, sondern auf den Handlungen, mit denen sie herbeigeführt wird. Wie auch die anderen vorgestellten Ritualtheorien soll im Folgenden auch der Ansatz von Mary Douglas daraufhin untersucht werden, inwieweit sie sich zur Erfassung des Jom Kippur-Rituals eignen. Die Frage wird sein, ob mit ihnen eine umfassende Beschreibung dieses Tages möglich ist oder ob manche Komponenten des Versöhnungstages durch das Raster der Ritualtheorien fallen könnten.

Jom Kippur und der Ritualbegriff

Entsprechend den im vorangehenden Kapitel geäußerten Gedanken, soll in der folgenden Analyse die begriffliche Trennung zwischen Ritual und Ritus insoweit eingehalten werden, als dass – sowohl bei der Betrachtung von Lev 16 als auch beim heutigen Jom Kippur – nur der gesamte Tagesablauf als Ritual bezeichnet wird. Alle Einzelhandlungen aus denen sich dieser Ablauf zusammenfügt, werden Riten genannt.

Im Hinblick auf die Frage nach der Etymologie des Wortes selbst, gibt auch der Blick auf das Versöhnungstagritual keinen näheren Aufschluss, da sich beide Herleitungsmöglichkeiten daraus plausibel erklären lassen. Mit Mary Douglas ließe sich, wie bereits oben erwähnt, für die Abstammung vom Sanskritwort „rta“ argumentieren, der Versöhnungstag versetze Mensch, Gemeinschaft und Heiligtum wieder in einen reinen Status, indem er Dinge, die die Ordnung stören, entferne. Die Nähe Gottes im Tempel und auch im Volk Israel bedeutet Leben und deshalb dürfen diese „Orte“ nicht mit Elementen in Berührung kommen, die Tod oder Krankheit – also ein Minus an Leben – bedeuten. Wenn dies doch geschieht, entstehen Unordnung und Chaos, die durch das Ritual beseitigt werden müssen. Doch mit Blick auf die lange Reihe von Riten, die am Versöhnungstag im Alten Testament wie auch heute nacheinander durchgeführt werden, ließe sich ebenso die Abstammung vom indogermanischen „ri“ erklären, denn gerade dieser Handlungsverlauf macht das Spezifikum des Rituals aus.

Ein besonders interessanter Punkt auf der begriffs-theoretischen Ebene ist die Verbindung von Ritual und Mythos in der Jom Kippur-Zeremonie. Während beim Versöhnungstagritual in Lev 16 selbst der Mythos keine herausragende Rolle spielt, tritt er in der Zeit nach der Zerstörung des Tempels in den Mittelpunkt der Feier. Das alttestamentliche Ritual, das von Aaron vollzogen wird, wandelt sich durch die veränderten äußeren Umstände und wird selbst zum Mythos. Die Rezitation der Avoda ersetzt den Vollzug derselben. Auch wenn Jom Kippur ein Tag voller Riten blieb, das Herz des Rituals wurde von der praktischen auf die narrative Ebene verschoben. Das Ritual wie es in Lev 16 beschrieben wird, gibt es nicht mehr und kann es ohne Tempel auch nicht mehr geben. An seine Stelle ist ein neues Ritual getreten – sozusagen ein Meta-Ritual: die Rezitation der Avoda. Die Verbindung zwischen Mythos und Ritual ist deshalb an Jom Kippur besonders eng, weil der Mythos für heutige Juden die Verbindung zum Ursprung des Rituals herstellt und der Versöhnungstag ohne ihn seine Mitte und seine Wurzel verlieren würde. Und so lässt sich das Verhältnis der beiden Kategorien zueinander auch nicht auf einen Grundtypus der Bezugnahme beschränken: am deutlichsten ist zwar die Bezugnahme durch Rezitation des Mythos im Ritual, aber auch die Dramatisierung des Mythos durch das Ritual lässt sich in modernen Jom Kippur-Feiern gut erkennen, denn die Rezitation der Avoda wird von der Gemeinde mit rituellen Handlungen begleitet und untermalt. So zum Beispiel durch das sonst unübliche Niederknien vor dem offenen Toraschrank, welches die Gemeinde immer dann wiederholt, wenn im vorgetragenen Text davon berichtet wird, dass sich das Volk Israel zu Boden warf, wenn Aaron aus dem Allerheiligsten kam und den Namen des Ewigen aussprach. So wurde also, auch wenn das eigentliche Ritual nicht mehr vollzogen wird, dessen Nacherzählung ihrerseits mit Riten verknüpft, so dass sich die Rezitation selbst zu einem Ritus mit festem Ablauf entwickelt hat.

Veränderungen und Entwicklungen lassen sich auch in Bezug auf den Teilnehmerkreis und den Grad der Öffentlichkeit des Rituals feststellen. In Lev 16 handelt bis auf wenige Ausnahmen alleine der Priester, das Volk ist zwar anwesend, spielt aber keine aktive Rolle. Aaron sühnt stellvertretend für alle. Daraus lässt sich einerseits erkennen, dass es sich in sehr extremer Weise um einen öffentlichen Ritus handelt, bei dem zumindest der Idee nach das ganze Volk versammelt ist. Des weitern wird aber auch das Charakteristikum solcher öffentlichen Riten sehr deutlich: es geht nicht um bestimmte Wünsche oder Anliegen des Einzelnen – es gibt überhaupt keinen individuellen Teil in diesem Ritual -, sondern es geht um das Wohl der ganzen Gemeinschaft. Ganz Israel muss rein werden, um in der Nähe Gottes leben zu können. In den Kapiteln des Buches Levitikus, die sich mit den Reinigungsvorschriften nach bestimmten Arten der Verunreinigung beschäftigen, geht es um den konkreten Einzelfall. Hier, am großen Versöhnungstag, geht es um überindividuelle Reinigung. Herausragendes Symbol für diese Überindividualität ist der Priester, der als „Kultspezialist“ stellvertretend für alle handelt. Dieser Gedanke der Kollektivität ist auch im heutigen Jom Kippur-Ritual vor allem im Sündenbekenntnis erhalten. Jeder bekennt sich aller vierundvierzig Sünden schuldig, auch wenn er selbst manche davon nicht begangen hat. Auch hier geht es um überindividuelle Schuld. Das Volk Israel als Ganzes hat sich allen aufgezählten Sünden schuldig gemacht und deshalb bitten alle um Verzeihung. Und dass es sich bei ‚allen’ nicht um einen ausgewählten Kreis handelt, zeigt die traditionelle Erlaubnis, an diesem Tag mit allen gemeinsam beten zu dürfen. Doch im Allgemeinen lässt sich im modernen Ritus eine deutliche Tendenz zur Individualisierung erkennen, wohl auch, weil es nicht mehr den Ort gibt, wo das Volk Israel sich versammelt und nicht mehr den Priester, der es vertreten kann. Die Verantwortlichkeit des Einzelnen für sein Schicksal tritt mehr in den Vordergrund, individuelle Handlungen wie z.B. Gebete für verstorbene Verwandte, nächtliches Verweilen in der Synagoge und nicht zuletzt das Fasten, prägen den Ablauf der Jom-Kippur-Feier. Nicht mehr der Priester als Kultspezialist lädt dem Sündenbock alle Schuld Israels auf und schickt ihn damit in die Wüste. Jeder und jede Einzelne muss sich entscheiden, wie er mit den Fehlern des vergangenen Jahres umgehen möchte. Dass das Wohl Israels als heiligem Volk zu Gunsten des Einzelnen mehr in den Hintergrund tritt, ist wohl die Schlussfolgerung, die aus ritualbegrifflicher Sicht aus dieser zunehmenden Privatisierung zu zeihen wäre. Nichtsdestotrotz blieb Jom Kippur immer ein Fest, das man nicht alleine mit der Familie beging, sondern dessen Zentrum wie bei keinem anderen Fest die Synagoge war und das deshalb immer in einem, wenn auch eingeschränkten, öffentlichen Kreis gefeiert wurde.

Jom Kippur und die Ritualtheorien

Der Teilnehmerkreis und der Grad der Öffentlichkeit eines Rituals ist, wie Wallace deutlich machte, ein starker Indikator für dessen Zielrichtung. Bei dem Versuch, den Jom Kippur in eine der fünf Kategorien einzuordnen, die Wallace aus dieser Überlegung gewann, stellt man jedoch schnell fest, dass sich dieser Ansatz zur Erfassung des Versöhnungstages nur bedingt eignet: es handelt sich weder um ein Ritual mit dem Ziel der Umweltbeherrschung, noch soll die Gesundheit von jemandem verbessert oder verschlechtert werden. Auch die Werte und Empfindungen der israelitischen Gesellschaft werden durch das Ritual nicht beeinflusst. Eher schon könnte man den Jom Kippur zu den Erlösungsritualen zählen, obwohl auch hier – vor allem mit Blick auf den biblischen Ritus – Zweifel angebracht sind, da Erlösung ein Handeln Gottes bedeuten würde, es an Jom Kippur aber der Priester ist, der Tempel und Volk reinigt. Der heutige Versöhnungstag ließe sich dieser Kategorie vielleicht am ehesten zuordnen. Auch Wallace letzte Kategorie, Rituale mit dem Ziel der Revitalisierung, passt nur bedingt, da er diese Wiederbelebung auf das Sozialsystem beschränkt, es am Versöhnungstag vor allem in Lev 16 aber vorrangig um das Verhältnis zwischen Mensch und Gott geht. Mit dieser Einteilung ist also das Spezifische des Versöhnungstages nur sehr schwer zu erfassen, weil sich das Ritual keiner der Kategorien einwandfrei zuordnen lässt.

Genau anders herum verhält es sich mit den vier Kategorien die Thiel – ebenfalls unter der Leitfrage nach der Zielsetzung- entwickelt hat. Erscheint Wallace’ Einteilung zu sehr auf den Einzelfall abgestimmt und deshalb zu eng gefasst, sind Thiels Grundtypen so allgemein gehalten, dass sich der Jom Kippur jeder von ihnen mehr oder weniger problemlos zuordnen lässt. Er erfüllt die Merkmale der apotropäischen Riten, da Gefahr vom Einzelnen oder von der Gemeinschaft abgehalten werden soll, die mit dem Leben in der Nähe Gottes verbunden ist. Der an Jom Kippur traditionell geäußerte Wunsch „Mögest du für ein gutes Jahr eingeschrieben werden“ zeigt, dass dieses Motiv auch heute noch eine große Rolle spielt und es auch weiterhin darum geht, schon im Voraus mögliches Unheil im kommenden Jahr abzuwehren. Die Vertreibung des schuldbeladenen Sündenbocks in Lev 16 macht aber auch deutlich, dass sich der Versöhnungstag ebenso zu den Eliminationsriten zählen ließe, die bereits bestehende Bedrohungen vernichten sollen. Dadurch, dass dieser Ritus heute nicht mehr praktizierbar ist und nur noch zitiert wird, ist der Gedanke der Elimination heute nicht mehr so zentral wie es in Zeiten des Tempels wohl der Fall war. Die Purifikationsriten gehören heute wie damals zum Zentrum des Versöhnungstags. Zwar fallen die Riten tatsächlicher körperlicher Reinigung, die im Tempelritual vom Priester noch vollzogen wurden heute weg, doch die Zielsetzung der ‚seelischen Reinigung’ ist dieselbe geblieben. Schuld und Unreinheit, die laut Gorman aus einer Verwirrung der Kategorien herrührt, werden durch das Blut der Opfertier, bzw. durch Fasten und Gebet ‚abgewaschen’, so dass der Mensch wieder frei ist, um in den Kontakt mit Gott zu treten. Zeichen für diese innere Reinigung ist heute vor allem auch die zehntägige Bußzeit vor Beginn des Jom Kippur, die aber auch schon erahnen lässt, dass sich der Begriff von ‚Unreinheit’ im Laufe der Zeit gewandelt hat, wovon später noch näher die Rede sein soll.

Wie schwierig die Zuordnung ist, lässt sich beispielhaft an einem einzelnen Element nachvollziehen: dem Kol Nidre. Wird es in aramäischer Sprache gebetet, bezieht es sich auf die Versprechen des kommenden Jahres und wäre somit zu den apotropäischen Riten zu zählen. In hebräischer Sprache allerdings geht es um die Versprechungen des vergangenen Jahres. Sind diese Versprechen im vergangen Jahr gebrochen worden, ist das Unheil also schon eingetreten und soll nun durch einen Purifikationsritus beseitigt werden. Zu der Komplexität des Ritus tritt hier also zusätzlich noch das Moment regionaler Unterschiede in der Ausführung.

Vor allem Benedikt Jürgens sieht den alttestamentlichen Jom Kippur aber auch als ein großes Übergangsritual. Als Belege für diese These führt er die von Aaron vorzunehmenden Waschungen und Kleiderwechsel zu Beginn und am Schluss des Rituals an, die er mit van Gennep als rite de séparation, bzw. als rite d’agrégation interpretiert. Zwischen diesen beiden Übergangsstadien liegt eine Grenzüberschreitung in den Bereich JHWHs, das Allerheiligste hinein, die Aaron nur auf Grund der vorherigen Trennung von seinem alten Status vollziehen kann. Es fällt jedoch auf, dass sich der Versöhnungstag als rite de passage keinem der von Thiel genannten Beispiele wie Ortswechsel, Statusveränderung oder Eintritt in einen neuen Lebensabschnitt zuordnen lässt, da es sich nicht um eine dauerhafte Veränderung handelt. Der Versöhnungstag frischt einen alten Zustand, den der Reinheit und Heiligkeit des Volkes Israels, wieder auf. Da dieser Zustand aber nicht dauerhaft gewahrt werden kann, bedarf es einer jährlichen Wiederholung. Man kann Jürgens also insofern zustimmen, dass innerhalb des Jom Kippur-Rituals ein Übergangsritus stattfindet. Dieser betrifft allerdings nur den Priester und ist auch nicht das eigentliche Ziel des Rituals, sondern nur der notwendige Weg zur angestrebten Reinigung.

Dementsprechend spielt sich auch kein „soziales Drama“ im Sinne Viktor Turners ab, denn die Grenzüberschreitung bezieht sich nicht auf gesellschaftliche Grenzen, sondern auf den Übertritt in die „Sphäre des Heiligen“. Die Ordnung wird nur insofern aufgehoben, als dass Aaron kurzzeitig einen Bereich betritt, in den er eigentlich nicht hinein gehört. Die gesellschaftliche Ordnung, die Turner beim sozialen Drama im Blick hatte, bleibt unangetastet, das Ritual dient nicht zur Entladung sozialer Spannungen.

Auch im modernen Jom Kippur-Ritual finden sich noch Spuren eines solchen Übergangsrituals, eines rite d’entrée, wie Benedikt Jürgens es versteht. Entsprechend der Tendenz zur Individualisierung und Selbstverantwortung sind es heute nicht mehr nur die ‚Kultspezialisten’, die diesen vollziehen, sondern die ganze Gemeinde: alle Gläubigen kommen an diesem Tag vollkommen in weiß gekleidet zur Synagoge und verzichten auf Nahrung, Getränke und sonstigen körperlichen Luxus. Gerade das Fasten bedeutet einen besonders starken Bruch mit der Alltagswelt. Ob das Verzichten eher eine Erhöhnung des Menschen und eine Konzentration auf seine göttliche Seite darstellt, wie de Vries meint oder den Menschen an seine Unbedeutsamkeit und seine unbedingte Abhängigkeit von Gott erinnern soll, muss hier dahingestellt bleiben. Auch durch die Kleiderwahl tritt man aus dem Alltag heraus und hinein in eine Zeit, in der es nur um die Beziehung zu Gott gehen soll. Die symbolträchtige Farbe weiß lässt dabei viele Interpretationen zu: weiße Gewänder als bewusste Anknüpfung an die Leinenkleidung Aarons am Versöhnungstag, als Ausdruck der Hoffung auf Vergebung Gottes und eine neue Unschuld, aber auch als Selbsterniedrigung durch völligen Verzicht auf Luxus. Dass Kantor und Rabbiner zu dieser Gelegenheit oft schon ihre Totenkleidung tragen, zeigt aber, dass auch noch ein anderer Deutungsansatz mit in den Blick genommen werden muss: weiße Bekleidung als ein ‚memento mori’, als ein Gedenken sowohl des eigenen Todes, als auch des Todes von Verwandten und Freunden. Durch eine solche Interpretation würden auch andere Elemente des Jom Kippur, wie das Kerzenanzünden für Verstorbene oder das Gebet für die toten Eltern, in einen größeren Deutungszusammenhang mit einbezogen. Die weiße Kleidung aber verlöre dann ihren Charakter als Übergangsritual und würde alleine als Gedenk- und Mahnzeichen fungieren. Ritualtheoretisch schlüssiger ist deshalb eine andere Interpretation: die Totenkleidung als Zeichen für den symbolischen Tod des Initianten im Übergangsritual. Laut Viktor Turner erleben die Neophyten zwischen Trennungs- und Angliederungsritual oft eine Phase, in der sie für die anderen Mitglieder der Gemeinschaft tot sind, um dann in einem neuen Status regelrecht neu geboren werden zu können. Rabbiner und Kantor treten nach den 10 Tagen der Vorbereitung und Buße aus der Welt heraus, um am Abend des Jom Kippur befreit von ihrer Schuld und voller Hoffnung auf ein gutes neues Jahr ‚wiedergeboren’ zu werden. Sicherlich ist es hier nicht berechtigt, nach der einzigen Erklärung zu suchen. Die Antwort wird viel mehr in einer Melange aus unterschiedlichen Motivationen liegen.

Inwieweit Mary Douglas’ Ansatz den alttestamentlichen Versöhnungstag zu erfassen vermag, ist bereits mehrfach angesprochen worden. In welchem Maße er sich zur Erklärung des modernen Jom Kippur eignet, hängt zum großen Teil davon ab, ob man die zu büßende Schuld wie im Alten Testament noch immer in einer Verwirrung der Kategorien sieht. Das Sündenbekenntnis scheint eher in eine andere Richtung zu deuten, denn was dort gebeichtet wird, sind größten Teils keine rituellen Verstöße gegen Reinheitsgebote oder Verunreinigungen eines heiligen Bereiches. Es sind vor allem Fehler, die im zwischenmenschlichen Bereich begangen werden, wie Gewalt, Betrug und Spott. Dieselbe Deutung legt auch – wie oben schon erwähnt – das Ritual der zehntägigen Bußzeit nahe, in denen die Aussöhnung mit den Mitmenschen im Zentrum steht. Geht man auf Grund dieser Beobachtungen von einem Wandel im Sündenbegriff hin zu sozialen Verfehlungen aus, erscheint die Theorie von Douglas für den Jom Kippur heute nur noch von geringer Aussagekraft zu sein.

Ganz zum Schluss sei hier noch der Ansatz von Catherine Bell erwähnt, den auch Jürgens für seine Überlegungen heranzieht. Sie unterscheidet in ihrem Hauptwerk „Ritual“ zwischen sechs Typen von Ritualen: rites of passage, calendrical rites, rites of exchange and communion, rites of affliction, feasting fasting and festivals and political rites. Laut Jürgens ließe sich Jom Kippur sowohl bei den kalendarischen Riten einordnen, weil er sich jährlich wiederholt, als auch bei den ‘rites of affliction’, weil nach dem Tod der beiden Söhne Aarons im Tempel eine Reinigung des Heiligtums notwendig wurde. Da sich Jom Kippur darüber hinaus auch den Fasten-Ritualen zuordnen ließe, zeigt sich auch hier, dass es bisher nicht möglich scheint, den Versöhnungstag klar einem Ritualtyp zuzuordnen. Vielmehr erfassen die verschiedenen Theorien jeweils Teilstücke des Ganzen. Doch manche zentrale Kategorien des Rituals, wie die Selbsterniedrigung durch Buße und Fasten oder das Totengedenken, lassen sich nur mit Mühe in die Theorien einpassen.

Der Grund für die Probleme bei der genauen ritualtheoretischen Zuordnung des Jom Kippur liegt in seinem großen Umfang und der Vielfalt seiner Elemente. Sowohl in Lev 16 wie auch heute setzt sich der Versöhnungstag aus einer Vielzahl kleinerer Riten zusammen, die alle zusammengenommen in ihrem festgelegten Ablauf das Charakteristikum dieses Tages ausmachen. Einzeln betrachtet lassen sich diese Riten meist ohne Probleme einer Kategorie innerhalb der verschiedenen Theorien zuordnen. Doch weil sie untereinander so verschieden sind, völlig unterschiedliche Ziele verfolgen, ist es bei dem derzeitigen Stand der Ritualtheorien nicht möglich, sie widerspruchsfrei in einer Theorie zusammenzufassen.

Schlussbetrachtung

Wenn es das erklärte Ziel der Ritualtheoretiker war und ist, Grundmuster aufzuzeigen, die sich in den Ritualen unterschiedlicher Kulturen wiederfinden und diese so vergleichbar werden lassen, haben sie dies mit Blick auf den großen Versöhnungstag nicht hundertprozentig erreicht. Theorien wie die von Viktor Turner und Mary Douglas, die sich aus der Beobachtung der Praxis eines bestimmten Rituals ableiteten, lassen sich nur schwer eins zu eins auf andere Rituale übertragen. Und auch die Parameter, die die anderen Theorien geliefert haben, ermöglichen keine direkte Parallelisierung mit Feiertagen in anderen Religionen und Kulturen.

Eines aber haben die Ritualtheorien bei der Analyse des Jom Kippur auf jeden Fall geleistet: sie haben den Blick für seinen Facettenreichtum und seine historische Wandelbarkeit geöffnet. Dadurch, dass keine Theorie allein sich als fähig erwiesen hat, den Versöhnungstag als Ganzes schlüssig zu erfassen, haben sie alle zusammen deutlich gemacht, wie unterschiedlich die Bestandteile, die Riten sind, aus denen sich das große Ritual zusammensetzt.

Dieses Analyseergebnis wirft natürlich die Frage auf, ob es überhaupt Sinn macht, den Jom Kippur als ein großes Ritual zu betrachten, oder ob es angesichts seiner Heterogenität nicht klüger wäre, die einzelnen Elemente für sich als abgeschlossenes Ritual anzusehen. Dass dies hier nicht gemacht wurde, liegt vor allem daran, dass der Versöhnungstag in der Empfindung der Gläubigen eine große Einheit ist, so zerstückelt er ritualtheoretisch auch wirken mag. Und das zeigt, dass der ritualtheoretische Blick wohl doch nicht genau erklären kann, was das besondere an diesem Feiertag ist, weil er sich zu sehr in den Einzelheiten verliert oder zu krampfhaft versucht, alles unter einen Hut zu bringen. Die Einheit des Versöhnungstages bei gleichzeitiger Betonung jedes Ritus’ ergibt sich nicht aus der Theorie, sondern aus der Praxis. Der gelebte Glaube der Menschen, gibt dem Tag seinen Sinn und seine Bedeutung. Und das hat wohl auch Franz Rosenzweig gespürt, als er an Jom Kippur die kleine Synagoge in Berlin betrat.

Literaturverzeichnis

  • Catherine Bell: Ritual. Perspectives and Dimensions, New York/ Oxford 1997.
  • Benedikt Jürgens: Heiligkeit und Versöhnung. Levitikus 16 in seinem literarischen Kontext, Freiburg im Breisgau (u.a.) 2001.
  • Bernhard Lang: Ritual/ Ritus, in: Hubert Cancik: Handbuch religions-wissenschaftlicher Grundbegriffe, Stuttgart (u.a.), Bd. 4, S. 442-458.
  • Susanne Galley: Das jüdische Jahr. Feste, Gedenk- und Feiertage, München 2003.
  • Erich Zenger: Das Buch Levitikus, in: Erich Zenger: Stuttgarter Altes Testament. Einheitsübersetzung mit Kommentar und Lexikon, Stuttgart 2005, S. 160-212.
  • S. David Sperling: Day of Atonement, in: Fred Skolnik:   Encyclopaedia Judaica. Second Edition, Detroit (u.a.) 2007, Bd. 5, S. 488-493.
  • Simon Ph. De Vries: Jüdische Riten und Symbole, Wiesbaden 2005.
  • Klaus Hock: Einführung in die Religionswissenschaft, Darmstadt 2002.
  • Axel Michaels: Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, München 2002.
  • Mary Douglas: Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Berlin 1985.

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