Allgemeine Vorüberlegungen zu Bildungsstandards für den jüdischen Religionsunterricht in der Primarstufe und in den beiden Sekundarstufen

Von Prof. Dr. Daniel Krochmalnik

Gemeinsame Bildungsstandards? Ist es überhaupt wünschenswert oder auch nur möglich, nationale Bildungsstandards für den jüdischen Religionsunterricht zu formulieren?

Besonders der Hinweis auf die Richtungen des Judentums ist ein empfindlicher Punkt, denn schließlich haben auch Katholiken und Protestanten keine gemeinsamen Standards. Mir scheint aber, daß es diesseits der konfessionellen und institutionellen Verzweigungen gemeinsame Wurzeln und einen starken Stamm aller Richtungen des Judentums gibt und ein allseitiges Interesse besteht, zu deren Wachstum beizutragen. Im Übrigen hat sich die Situation seit dem ersten Auftreten der Richtungen des Judentums im 19. Jahrhunderts grundlegend geändert. Damals bauten die Reformer auf eine feste traditionelle Form und formten sie in der einen oder anderen Weise um. Das ist heute ganz anders! Die meisten Juden in der Bundesrepublik stammen inzwischen aus „Gusland“ und sind in ihrer großen Mehrheit über ihr Judentum völlig uninformiert. Alle Richtungen des Judentums stehen im Grunde genommen vor der gleichen Herausforderung: die Schwundform des heutigen Judentums in Deutschland zu überwinden. In dieser Situation behilft sich jeder wie er kann: Es kommt schon vor, daß ein liberaler Rabbiner seine Gemeinde mit Klezmermusik und chassidischen Tänzen in Schwung bringt oder eine konservative Rabbinerin das betont revivialistische Bildungskonzept Franz Rosenzweigs aufwärmt. In der Schule insbesondere brauchen wir eine konfessionsneutrale, wenn es das Wort gäbe, „Inform“, statt Reform. Wir können es uns auch gar nicht leisten, an jedem Ort Religionslehrer aller Richtungen anzustellen und die ohnehin schwach besuchten Religionsklassen weiter aufzuteilen. Ein gemeinsamer Bildungsplan, der für Lehrer jedweder Richtung verbindlich ist, bietet allen die Gewähr, daß die nächste Generation mit einem Mindeststandard an jüdischen Kompetenzen antritt. Die Bildungsstandards sind im übrigen keine Lehrpläne im üblichen Sinn des Wortes, sondern schreiben allgemeine Lehr- und Lernziele fest, die dann in den Schulen je nach Profil und Ausrichtung noch weiter konkretisiert werden müssen. Wenn wir z. B. den jüdischen Religionsunterricht als Vorschule der Liturgik beschreiben, dann ist damit noch keine bestimmte Gebetsordnung vorgeschrieben, diese muß jede Gemeinde für sich eintragen. Ich habe keinen Zweifel, daß sich auf dieser Abstraktionsebene alle Richtungen des Judentums auf einen Minimalkonsens einigen können und sollen.

Noch etwas muß vorausgeschickt werden: Unsere Überlegungen beziehen sich auf den Regelfall des jüdischen Religionsunterrichts in nichtjüdischen Schulen, für den Ausnahmefall des jüdischen Religionsunterrichts in jüdischen Schulen, die über ein Vielfaches an jüdischen Fächern, Lehrern und Schülern verfügen, müßte er entsprechend adaptiert werden. Die Mindeststandards sollten aber alle jüdischen Religionsschüler erreichen.

I. Der Religionsunterricht im Fächerkanon. Für den jüdischen Religionsunterricht gilt auch, was für den Religionsunterricht überhaupt gilt. Der Religionsunterricht verhält sich zum übrigen Fächerkanon der Schule wie die Religion zur Kultur. Dieses Verhältnis kann in drei Achsen aufgefächert werden:

  1. Transzendenzachse: Die monotheistischen Religionen stehen der Kultur kritisch gegenüber. Das kulturell Gegebene wird vom absoluten Standpunkt Gottes aus relativiert. Diese kulturkritische Höhendimension ist bereits eine Grundhaltung der Bibel zu den frühen Hochkulturen und kommt paradigmatisch im Abstieg Gottes, etwa in der Geschichte vom Babelturm, zum Ausdruck: „Und der Herr stieg herab um zu sehen …“ (WaJered H’ Lirot, 111,5). Aber in der Neuzeit verschärft sich der Gegensatz durch zunehmende Entkirchlichung und Verweltlichung. Die Schere zwischen Religion und Kultur, Heiligem und Profanem tut sich immer weiter auf, bis hin zur pauschalen Ablehnung der säkularen Kultur, wie sie dem Westen heute nicht nur von Fundamentalisten aller Religionen, sondern gelegentlich auch aus Verlautbarungen der Amtskirchen entgegen schallt. Diese religiöse Antithese darf im Religionsunterricht trotzdem nicht fehlen. Denn durch sie werden nicht weiter reflektierte Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt, so etwa in einem wissenschafts- und technikgläubigen Umfeld, die Allmacht des Menschen, in einer leistungsbetonten Schulumgebung der Sinn von Prüfung, in einem konsumorientierten gesellschaftlichen Umfeld, die bleibenden Werte usw.. Die Religionsklasse verhält sich zur Schule wie die Krankenhauskapelle zum Krankenhausbetrieb – sie ist Refugium und zugleich Ausguck grenzüberschreitenden Denkens. Indem die Religionslehre alles vom absoluten Anfang und Ende her bedenkt und die Mitte im Einbruch des ganz anderen sieht, befreit sie vom Alpdruck des Gegebenen. Diese Arbeit des Negativen ist ein unverzichtbarer Beitrag der Religion zur Erziehung und Bildung insgesamt. Der Religionsunterricht ist in dieser Hinsicht Schule der Distanz.
  1. Transformationsachse: Doch das Verhältnis der monotheistischen Religionen zur Kultur war nie nur negativ. Sie unterhalten vielmehr ein missionarisches Verhältnis zur Kultur und sind auf Inkulturation aus. Radikale kultur- und weltfeindliche Sekten wurden aus ihnen vielmehr ausgeschieden oder in Form von Orden strikterer Observanz zugleich integriert und isoliert. Die Transzendenz soll vielmehr in die Immanenz, der Geist Gottes in die Schöpfung eingehen (11,2). Das Gegebene der Kultur, zum Beispiel das Gewachsene in der Agrikultur wird geheiligt und als Gabe und Segen erfahren. So vollendet auch die Bibel die Schöpfung mit der Heiligung und die Werktage mit dem Ruhetag: „Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn“ (WaJewarech Elohim Et Jom HaSchwi’i WaJekadesch Oto, 12,3). Untersucht man das biblische Heiligkeitsgesetz (319) genauer, dann stellt sich heraus, dass es sich keineswegs auf Reinheitsgebote beschränkt und außergewöhnliche Leistungen verlangt, sondern universale Moralprinzipien, wie die Nächsten- und Fremdenliebe entfaltet (319,18u.33). Das Eingehen der Religion in die Kultur ist stets eine Synthese, die sowohl der Kultur als auch der Religion Kosten verursacht. Aber die Religion glaubt, die Welt in ihrem Sinn verändern, verbessern und letztendlich in einen universellen Sabbat verklären zu können. Erziehung zur messianischen Arbeit ist ein wichtiger Beitrag der Weltreligionen zur Weltverantwortung. Die Schüler/innen können hier zu grenzüberschreitendem Handeln motiviert werden. Auch in dieser Hinsicht ist der Religionsunterricht ein unverzichtbarer Beitrag zur humanen Erziehung und Bildung und kann eine Schule des Engagements genannt werden.
  1. Traditionsachse: Die genannten antithetischen und synthetischen Momente sind in jeder Weltreligion in verschiedenen Dosierungen enthalten, doch wir lernen sie zunächst nicht in Reinform, sondern thetisch in Gestalt einer positiven Religion kennen. Hier verhält sich Religion nicht zur Kultur, sie ist selber Kultur – eine ganze Welt aus heiligen Zeiten und Räumen, Zeichen und Bräuchen, Geheimnissen und Büchern, eine Welt, in der die Transzendenz schon in die Immanenz eingegangen, die messianische Zeit schon antizipiert ist. Der Religionsunterricht im kirchlichen Auftrag muß in diese Innenwelt des Glaubens einführen, Orientierung geben in die Höhen und Tiefen des Kirchenjahrs und des Lebenszyklus: den Fest- und Fastenzeiten, den Ein- und Aussegnungen usw., die Zeichen und Symbole des Glaubens entziffern, die Quellen des Glaubens erschließen usw.. Religionsunterricht ist in dieser Hinsicht Schule des Glaubens. Die grenzüberschreitenden moralischen Motivationsressourcen und emanzipatorischen Potentiale der Religion erscheinen zunächst in dieser Glaubenswelt eingebettet und müssen aus der Innensicht heraus entwickelt werden. Denn im Religionsunterricht soll nicht wie im Ethikunterricht über Religion, sondern aus der Religion heraus gesprochen werden!

II. Der jüdische Religionsunterricht. Das Verhältnis des jüdischen Religionsunterrichts zur Schule ist wie das des Judentums zur Kultur noch komplizierter. Denn das Judentum steht in der Diaspora in doppelter Distanz sowohl zur herrschenden Kultur als auch zur Mehrheitsreligion, so daß kaum etwas in der kulturellen Umgebung die jüdische Unterweisung unterstützt. Ein Diasporajude muß das Judentum suchen, es wird ihm nicht mit jedem Glockenschlag ins Haus gerufen. Jüdische Erziehung heißt in der Diaspora z. B. Erziehung gegen den Uhrzeigersinn: das Synagogenjahr ruft heilige Ruhezeiten aus, wenn die ganze übrige Welt arbeitet, handelt oder einkauft. Schon die Datierung eines geschichtlichen Ereignisses nach der christlichen Zeitrechnung ist schleichende Assimilation, weil die eigene Zeitrechnung mit ihren „Grunderfahrungen“ (Rootexperiences) und „epochemachenden Umbrüchen“ (Epoch-making events) vernachlässigt wird. Hinzu kommt, daß infolge von tiefen hier nicht näher zu erörternden geschichts- und migrationsbedingten Traditionsbrüchen die beiden anderen traditionellen Erziehungs- und Bildungsinstanzen, das jüdische Elternhaus und die jüdische Gemeinde für die Mehrheit der jüdischen Schüler/innen ausfallen. Der dünne Faden muß vielfach in nur zwei Wochenstunden Religionsunterricht fortgesponnen werden, wenn er nicht ganz reißen soll. Das erlegt den jüdischen Religionslehrern eine schwere Verantwortung auf und verlangt vom Bildungsplan eine konsequente Berücksichtigung von Prioritäten und einen strengen Zeithaushalt. Wenn wir den Bildungsplan als eine Art Rettungsplan verstehen, dann ergeben sich m. E. ganz von selbst folgende Richtlinien:

  1. Stoffreduzierung: Der erste Imperativ ist ganz einfach: Religionsunterricht soll Religionsunterricht sein! Gerade im jüdischen Religionsunterricht sind noch viele andere Kenntnisse, z. B. der hebräischen Sprache, der jüdischen Geschichte, der israelischen Geographie erforderlich, die die Schüler/innen in der Regel nirgendwo sonst in der Schule mitbekommen. Die Versuchung ist groß, den Religionsunterricht zum Sprachunterricht, zum Geschichtsunterricht oder gar zum politischen Debattierclub zu machen. Die unverzichtbaren Zusatzinformationen dürfen aber nur als Hilfsmittel eingeführt werden und müssen erkennbar mit dem religiösen Zweck verbunden bleiben. Die Schüler/innen lernen im Religionsunterricht nicht Neuhebräisch (Iwrit), sondern die Heilige Sprache (Leschon HaKodesch) soweit das für den Gebrauch der Heiligen Bücher (Siddur, Mikra, Mischna) notwendig ist; sie lernen nicht Geschichte des jüdischen Volkes, sondern Heilige Geschichte. Die Zerstörung des Tempels kommt z. B. nicht nur als Ereignis aus der Römerzeit, sondern auch als bleibender Verlust der Mitte und als zukunftsträchtiges, heilsgeschichtliches Geschehen vor. Mit dem Land Israel ist nicht in erster Linie der moderne Nationalstaat gemeint, sondern das Heilige Land. Obwohl der Nahostkonflikt für die meisten jüdischen Schüler/innen, besonders an Schulen mit hohem Moslemanteil, eine ganz erhebliche Rolle spielen dürfte, so ist der Religionsunterricht doch nicht der geeignete Ort für politische Information oder gar – Indoktrination.

Aber auch die Breite des religiösen Stoffes fällt dem Sparkurs zum Opfer. Wer hier Vollständigkeit anstrebt, dem würden auch tausend Jahre nicht ausreichen, geschweige denn die insgesamt ca. tausend Stunden Religionsunterricht, die er von der ersten bis zur letzten Klasse zur Verfügung hat. Es kommt aber hier wie auch sonst gar nicht auf die Fülle des Stoffes an, sondern auf die Mittel, mit dem er bewältigt werden kann. Entsprechend soll der Bildungsplan, der sowieso nicht als Stoffverteilungsplan gedacht ist, auf paradigmatische Prägnanz aus sein. Es ist z. B. nicht möglich, daß jüdische Schüler/innen im größeren Umfang Gemara im Religionsunterricht lernen, es darf aber auch nicht sein, daß sie fast tausend Stunden im jüdischen Religionsunterricht verbringen, ohne je ein Blatt Gemara zu sehen. Ein gut gewähltes und gut erschlossenes Blatt, kann stellvertretend für alle anderen zeigen, wie Gemaralernen geht und welcher Geist durch den Talmud weht. Wenn man anderswo Zeit klug einspart, kann man sie an solchen zentralen Stellen gewinnbringend investieren.

  1. Innenorientierung: Ein weiterer inhaltlicher Imperativ ergibt sich aus der nie dagewesenen Traditions- und Bildungskrise des deutschen Judentums. Nach dem weitgehenden Wegfall der jüdischen Milieufrömmigkeit hat der jüdische Religionsunterricht in erster Linie Schule des Judentums zu sein! Nicht daß deshalb die universalistischen Tendenzen des Judentums ganz vernachlässigt werden müßten. Es ist kein Zufall, daß unsere Paradigmen für die Transzendenz- und Transformationsachsen der Religionslehre aus der hebräischen Bibel stammen und zur gegebenen Zeit sollen auch die moralischen Revolutionen gewürdigt werden, die das adamitische Menschengeschlecht, die noachidischen Gebote, die mosaische Befreiungstat und das göttliche Zehnwort bedeuten. Aber der jüdische Religionsunterricht darf nicht von apologetischen Rücksichten diktiert werden. Da er für viele jüdische Schüler/innen der einzige Ort ist, wo sie authentisch über ihr Judentum unterrichtet werden, muß der Lehrer sie so weit wie möglich in das innere des jüdischen Heiligtums hineinführen. Die Toleranz muß es dulden, daß für zwei Wochenstunden über der Klassentür der Bileam- Spruch steht: „Siehe da ein Volk, abgesondert wohnt es (Am Lewadad Jischkon)“ (423,9). Viele werden uns oder sich selber diese kleine Intimität nicht gestatten. Ist es nicht vielmehr das politische Gebot der Stunde die Türen des Religionsunterrichts weit aufzureißen und jedermann Einblick zu gewähren, um die Bildung von geschlossenen „Parallelgesellschaften“ zu verhindern? Diese Forderung ist in Bezug auf die Koran-Schulen, nach allem was in den letzten Jahren geschehen ist, sicher gerechtfertigt; in Bezug auf den jüdischen Religionsunterricht sind solche Sorgen aber wenigstens hierzulande völlig überzogen. Hier ist vielmehr zu befürchten, daß die jüdische Kultur ausstirbt, wenn ihr dieses Biotop nicht zur Nutzung überlassen wird.
  1. Kalenderorientierung: Aber es geht nicht um ein virtuelles Judentum im Klassenzimmer. Der Religionsunterricht soll auch Brücken zum gelebten jüdischen Leben in der jüdischen Familie und der jüdischen Gemeinde bauen. Das setzt Synchronie dieser Sphären voraus und verlangt folglich die Orientierung am jüdischen Kalender (Luach). Dieser führt dem Lehrer „zu ihrer Zeit“ die Lehrinhalte zu. Nach dem berühmten Ausspruch von Rabbiner Samson Raphael Hirsch: „Des Juden Katechismus ist sein Kalender“, kann so das ganze Pensum erledigt werden. Denn in einem Jahr durchwandern wir auf mehreren, teilweise sich überschneidenden Kreisbahnen den ganzen jüdischen Kosmos: Den Kreis der Wochen- und Sabbattage und den Kreis der Fest- und Fasttage; damit zusammenhängend den Kreis der täglichen und festtäglichen Gebete und den Kreis der Wochen- und Festtagsabschnitte aus der Tora und der korrespondierenden Prophetenabschnitte; nicht zu vergessen, den Kreis der neueren jüdischen Gedenktage, vor allem der 9. November, der 27. Nissan und der 5 Ijjar, die gerade für die Juden in Deutschland von großer Bedeutung sind und zur Anknüpfung von geschichtlichen Informationen und Reflexionen dienen können. Alle großen deutschjüdischen Bildungsreformer von Moses Mendelssohn bis Franz Rosenzweig haben die Kult- und Kalenderorientierung des Unterrichts als Herzstück ihrer Bildungspläne gefordert. Das ist nun freilich keine große Weisheit, denn der jüdische Kalender ist ohnedies der geheime Lehrplan des jüdischen Religionsunterrichts, was immer der offizielle Lehrplan fordert. Die Gefahr dabei ist, daß in den Zellen dieses ewigen Pater Nosters immer das gleiche drin steht und von der ersten bis zur letzten Klasse immer das gleiche wiederholt wird. Hinzu kommt, daß die höchsten jüdischen Feiertage meistens auf das Ende der Schulferien fallen – und in einem streng kalenderbezogenen Unterricht nie dran kommen. Jüdische Schüler/innen wissen in der Regel mehr über sekundäre Feste wie Chanukka und Purim, als über hohe Feiertage wie Rosch HaSchana und Jom Kippur. Beiden Mißständen kann durch ein Spiralcurriculum im Zweijahresturnus abgeholfen werden, was sich sowieso wegen der vielfach üblichen Zusammenlegung von Jahrgängen im Zentralunterricht empfiehlt. Dabei kämen im G8-Zug vier große zweijährige Zyklen heraus.
  1. Lernorientierung: Das Allerheiligste ist im rabbinischen Judentum aber das Lehrhaus (Bet-HaMidrasch). Das Judentum wurde einmal treffend als „The Religion of Lernen“ (S. C. Heilman) bezeichnet und die Titel aller Quellen des Judentums – Tora, Talmud, Mischna, Gemara, Midrasch, Mischne Tora, Mischna Brura usw. bedeuten Lehre oder Lernen. Es ist völlig ausgeschlossen, eine authentische Innensicht des Judentums und aller seiner Quellen zu erlangen, wenn man gar keine Ahnung vom Lehrhaus hat. Wenigstens ein paar Moleküle Lehrhausluft müssen in jedem jüdischen Religionsunterricht nachweisbar sein. Es reicht also nicht, Lerninhalte aus der Innenperspektive beizubringen, sie müssen auch in jüdischen Lernformen vermittelt werden. So wie der Chemieunterricht ab und zu ins Laboratorium umzieht, um Reaktionen vorgeführt zu bekommen, so muß der jüdische Religionsunterricht ab und zu in ein imaginäres Lehrhaus umziehen, um jüdisches Lernen zu lernen. Das jüdische Lehrhaus blickt auf eine Jahrtausende alte Lernkultur zurück und wir beugen uns auch als Verfasser dieses Bildungsplanes dem Imperativ der Innenorientierung, wenn wir unserem Konzept traditionelle Lernformen zugrunde legen. Das ist umso naheliegender, als diese Methoden dem Stoff vollkommen angemessen – und daher von anderswoher bezogenen Lernbegriffen überlegen sind. Wenn wir im Folgenden hauptsächlich vier jüdische Lernformen unterscheiden, dann haben wir damit keineswegs alle jüdischen Lernmethoden erschöpft. Schon die Tradition zählt z. B. dreizehn Methoden (Middot) für das gesetzliche und zweiunddreißig Methoden für das geschichtliche Gebiet auf; ja, eine Autorität bringt es sogar auf 613 Methoden – ebenso viele wie es göttliche Gesetze gibt. Aber alle die Methoden gehören der gleichen Art des Lernens an. Wir meinen aber vier verschiedene Lernarten, die in einem abgestuften Verhältnis zu einander stehen.
  1. Beim traditionellen Lernen in einer teilweise oralen Kultur steht nach allgemeiner Auffassung das Auswendiglernen an erster Stelle. Eines der hebräischen Verba docendi, Schano, wird denn auch aus der Wurzel SchNH mit der Grundbedeutung „wiederholen“ gebildet. Das viermalige wiederholen des Stoffes gilt in Talmud und Midrasch als empfehlenswertes Lernmodell (bEr54b; rBer24,5; rSchem40,1). Von diesem Lernbegriff ist der Titel des grundlegenden rabbinischen Werkes, Mischna, abgeleitet, die als „mündliche“ Tora (Tora ScheBeAl Pe) eben auswendig (BeAl-Pe) zu lernen war. Wir mußten als Schüler z. B. den hebräischen Wortlaut der folgenden Mischna auswendig lernen, die uns hier als Beispiel dienen soll: „Vier Hauptschädigungen gibt es: die durch den Ochsen (Schor), durch die Grube (Bor), durch den Abweider (Mawe) und durch Brandstiftung (Hew’er). Die Eigentümlichkeit des Ochsen ist nicht wie die des Abweiders, und die Eigentümlichkeit des Abweiders ist nicht wie die des Ochsen, und die Eigentümlichkeit dieser beiden, daß nämlich in ihnen ein Lebensgeist ist, ist nicht wie die des Feuers, in dem kein Lebensgeist ist, und die Eigentümlichkeit dieser drei, daß es nämlich ihre Weise ist, fortzuschreiten und zu beschädigen, ist nicht wie die der Grube, deren Weise es nicht ist, fortzuschreiten und zu beschädigen. Das ihnen gemeinsame ist, zu beschädigen, daß deren Bewachung dir obliegt und wenn eines von ihnen beschädigt hat, der Schädiger schuldig ist, vom Besten seines Landes Schadensersatz zu leisten“ (mBKa1,1). Aber auch bei dieser Art des Lernens geht es nach Auffassung der Rabbinen nicht nur um die Füllung des Gedächtnisses, sondern auch um die Schärfung des Verstandes (Charifut). In der biblischen Quelle für die Lehrpflicht heißt es nicht umsonst: „Und schärfe es deinem Sohn ein“ (WeSchinantam LeWanecha, 56,7). Die sonst so scharfsichtigen alten und mittelalterlichen Erklärer übersehen hier geflissentlich den Unterschied zwischen den Wurzeln SchNN, „schärfen“, „spitzen“ und SchNH, „wiederholen“ und beziehen beides unbekümmert auf das Lernen der Mischna, weil sie es offensichtlich auf den Geistesschliff abgesehen haben. Eben das ist auch der Sinn der Wiederholung in einem Bildungsplan, der dem Kreislauf des Synagogenjahres (Schanah) folgt. Zwar kehren im Zweijahrestakt die selben Themen immer wieder, aber der Reifegrad des Schülers ist inzwischen anders (Schanah), das selbe wird in jedem Stadium in einer neuen Reflexionspotenz hervorgeholt. Man könnte kaum von Lernen sprechen, wenn Wiederholung nur “das Selbe nochmal” bedeuten würde, die Lernspirale muß sich immer weiter drehen und das Alte in immer neuen Perspektiven und Horizonten zeigen. Wie sagt doch das alte Wort: “Wer einen Abschnitt hundert mal wiederholt gleicht nicht dem, der hundert einmal wiederholt” (bChag9b). Insofern ist das jüdische Lernen die beste Vorbereitung auf das jüdische Leben, daß ohne dem monotone Routine wäre.
  1. Der eigentliche rabbinische Begriff des Lernens als Dazulernen beruht denn auch auf dem Prinzip „Nullredundanz“ (R. Reichmann): Gott wiederholt sich nicht! Jede noch so kleine Differenz in der Heiligen Schrift wirft die Frage nach der neuen Bedeutung (Chiddusch) auf. Dieses Lernen wird in der Sprache der Rabbinen wahlweise mit Lamod von der Wurzel LMD mit der Grundbedeutung „lernen“ oder Darosch von der Wurzel DRSch mit der Grundbedeutung „forschen“, „untersuchen“ bezeichnet. Von diesen beiden Wurzeln stammen die Titel Talmud und Midrasch. Technisch geht es darum, dem Schrifttext neue Lehren abzugewinnen, die dann gewöhnlich mit der Formel: „Talmud Lomar“, d. h. „(die Schrift enthält eine) Lehre, indem sie sagt (…)“ eingeleitet werden. Aufgrund eines leisen Winkes (Remes) kann der Schrifttext Mittels gewisser Methoden (Middot) generalisiert oder präzisiert werden. Nehmen wir das soeben angeführte Beispiel der Haftpflicht. Im biblischen Bundesgesetz werden vier Haftungsschäden aufgezählt: 1. Stößiger Ochse (Schor, 221,28f,35), 2. Offene Grube (Bor, 221,33), 3. Weidende Herde (Mawe 222,4) und 4. Brandstiftung (Hew’er, 222,4-5). Der Midrasch Halacha verallgemeinert nun den Begriff „Ochse“ durch Heranziehung des Arbeitsverbotes für Tiere am Sabbat: „Ochs, und dein Esel und all dein Vieh (…)“(55,14) auf „Vieh“ (Mechilta zu 221,28). Der gleiche Midrasch fragt immer wieder, warum die Schrift nach dem Ochsen (Schor) noch weiteres anführt, z. B. den Brunnen (Bor) und leitet daraus eine logischen Distinktion ab: „denn die Weise (des Ochsen) ist zu gehen und zu schädigen, (…) bei der Grube (…), deren Weise ist es nicht zu gehen und zu schädigen?“ (ebd. 11 zu 221,33). So kommen wir nach und nach zur Klassifikation der vier Haftungsschäden in der oben zitierten Mischna nach abnehmender Eigeninitiative der unmittelbaren Schadensursache (mBKa1,1). Dem Begriff „Ochse“ haftet jetzt kein Stallgeruch mehr an, er ist eine geruchsneutrale Kategorie der Haftpflicht. In der Gemara zu dieser Mischna wird die Klassifikation noch weiter ausdifferenziert; einige Gelehrte unterscheiden dreizehn, einer sogar vierundzwanzig Arten von Haftschäden – eine Kasuistik, die übrigens keinen Einfluß auf die Höhe des Schadensersatzes hat und somit wirklich nur der Begriffsschärfe (Charifut) dient. Mit solchen Mitteln wird der biblische Mythos und Nomos in den mischnischen und talmudischen Logos verwandelt. Diese Art des Lernens stellt gegenüber der vorigen eine höhere Reflexionsstufe dar, weil sie die Lehre nicht passiv hinnimmt, sondern aus der Schrift gleichsam noch einmal hervorbringt. Lernen heißt hier Reproduktion des Gelernten. Der Unterschied zwischen den beiden Lernarten könnte man mit dem zwischen der deskriptiven und genetischen Naturkunde vergleichen. Die ludisch-talmudische Lernart kann geistig so befriedigen, daß manche Schüler im orthodoxen Milieu lebenslänglich im Lehrhaus bleiben. Schwieriger ist die Vermittlung des Midrasch und seiner Methoden im Religionsunterricht. Aber ganz ohne Midrasch geht es nicht! Etwa ein Bibelunterricht ganz ohne Rücksicht auf die rabbinische Auslegungstradition kann alles sein – historisch, kritisch, wissenschaftlich, fundamentalistisch, nationalistisch – jüdisch ist er jedenfalls nicht. Auch sollte man den Bildungswert des Midraschs nicht unterschätzen. Die dort erworbenen textanalytischen und logischen Fähigkeiten sind grundsätzlich nicht anderer Natur als die im Deutsch- oder Mathematikunterricht gefragten. Das Befremden rührt vor allen Dingen daher, daß man Religion eher der Gruppe der weichen irrationalen als der harten rationalen Fächer zuordnet.
  1. Jüdisches Lernen ist aber nicht nur intellektualistischer Selbstzweck, sondern auch auf Anwendung bedacht, Tunlernen. Schon in der biblischen Sprache sind Lernen (Limud) und Tun (Assija) ein unzertrennliches Paar: „Israel, höre (Jisrael Schema) auf die Satzungen und Vorschriften, die ich euch lehre zu tun (Melamed … La’assot) (…) (54,1 u. 5,1;5,28;6,1;18,9;20,18). Auch dort wo in der rabbinischen Literatur der Vorrang der Theorie behauptet wird, begründet sie es mit dem Praxisbezug (bKid40b). Die Tradition hat die Worte mit denen das Volk, die Tora angenommen hat: „wir wollen tun und hören“ (Na’asse WeNischma, 224,7) als verdienstvolle Bereitschaft gedeutet, zuerst gehorchen und dann räsonieren zu wollen. Die heute gängige Erklärung geht noch weiter, sie versteht den Ausdruck so, daß sich Verständnis erst durch die Tat einstellt, Na’asse WeNischma könnte man mit Learning by doing übersetzen. Das wird gewöhnlich als Geschmacksverstärker bei schwer verständlichen oder umständlichen Geboten (Mizwot Ma’assijot) eingesetzt, nach dem Motto: „Probieren geht über Studieren“ oder: „Der Appetit kommt mit dem Essen“. Das Praxisprimat ist aber dem gesamten Lernstoff schon von vornherein eingeschrieben, denn schließlich ist die Tora eine „Weisung“: in ihren gesetzlichen Teilen eine Anweisung zum Handeln (Halacha); in ihren geschichtlichen Teilen, mit ihren lehrhaften Erzählungen (Aggadot), lehrreichen Beispielen (Ma‘assijot) und belehrenden Sprüchen (Meschalim) eine Unterweisung zur Vorbildnachfolge. Damit betreten wir das weite Feld der rabbinischen Moraltheologie (Midrasch Haggada, Drascha, Mussar), dessen höchster Maßstab die imitatio Dei als imitatio viarium dei (LaLechet UlHidamot Bedarche HaSchem, Sefer HaMizwotNr.8+) ist. Das entspricht der evangelischen Nachfolge (akoloutei moi, Lk9,23; Mt19,21) der „imitatio Christi“ oder des „Christo conformiter vivere“ im Christentum, der „Sunnat an-nabyi“ (Koran33,21) im Islam und der Brahmatscharja im Buddhismus. Lernen als moralische Belehrung stellt im Vergleich zu den vorigen Lernbegriffen wieder eine höhere Reflexionsstufe dar, weil es die biblischen Geschichten und Gebote nicht einfach hinnimmt oder aus den Quellen herausarbeitet, sondern nach ihrem Sinn und Wert fragt (Ta’ame HaMizwot). Man könnte auf dieser Ebene z. B. fragen, welchen moralischen Sinn die oben angeführte Kasuistik der Haftpflicht hat. Sie belehrt auf jeden Fall darüber, wie weit der göttliche Schutz von Leib und Leben und Besitz meiner Mitmenschen vor meiner gemeingefährlichen Fahrlässigkeit und Nachlässigkeit reicht. Der Umfang meiner Haftung wird am Einschluß der unbeabsichtigten Nebenfolgen in die Haftung deutlich. In der ganzen Gemara zu unserer Mischna wird nur bei einer einzigen Unterkategorie, eine Halbierung des Schadensersatzes zugestanden. Maimonides begründet diese ganze Klasse von Geboten daher moralisch so, daß die empfindlichen Vermögensstrafen das Verantwortungsbewußtsein des Menschen schärfen sollen (MoreIII,40). In einem gewissen Alter ist die moralische Hinterfragung der Gesetze unvermeidlich und ein Religionsunterricht, der nicht auf Scheinzustimmung baut, muß diesem Bedürfnis Rechnung tragen und eine Art von Lernen praktizieren, das ihm entgegen kommt.
  1. Dem Judentum ist die Tora aber nicht nur eine spezielle Weisung, sondern auch eine allgemeine Weisheit (Chochma). Lernen als Weisheitserwerb wird in der Bibel mit dem Verb, Qanoh, von der Wurzel QNH bezeichnet, die sowohl „erschaffen“ und „gründen“ (114,19) wie auch „anschaffen“ und „erwerben“ (Spr4,5;16,16;17,16;18,15) bedeuten kann. Entsprechend ist die biblische Weisheit nicht nur Lebens- sondern auch Weltweisheit; sie mißt von einem vorweltlichen Standpunkt (Spr8,22) das große Ganze der Schöpfung aus (Spr3,19). Wohl weil auch die Ehefrau erworben wird (HaIscha Niqne), wurde die Sprache der Liebe auf Frau Weisheit übertragen (Spr4,6;8,17; Sir51,13ff; Sap8,2). Die Ähnlichkeiten mit der griechischen philo-sophia sind nicht rein zufällig, wie z. B. die, freilich reichlich misosophischen Meditationen des biblischen Predigers zeigen. Hatten die alten Naturphilosophen, Thales, Anaximander, Anaximenes, Heraklit, Xenophanes nacheinander gelehrt: „Alles Wasser“, „Alles unbestimmt“, „Alles Luft“, „Alles fließt“, „Alles eins“, so lehrt Kohelet mit betontem Ich (Koh1,12) wie der Kyniker Monimos: „Alles Dampf“ (HaKol Hawel, typhon einai panta). Die Weisheit wird schon in der deuterokanonischen Weisheitsliteratur mit der Tora gleichgesetzt (Sir24,23;Bar4,1), was die rabbinischen Weisen (Chachamim) dankbar aufgriffen (mAw VI: Perek Kinjan Tora). Ein Musterbeispiel dafür liefert gleich der erste rabbinische Kommentar zur Schöpfungsgeschichte. Gestützt auf den biblischen Selbstpreis der Weisheit beschreibt er die Tora als Plan (rBer1,1), nachdem Gott die Welt erschuf. Hieran konnten dann die spekulativen Lehren der mittelalterlichen jüdischen Philosophie und Theosophie (Kabbala) anknüpfen. Diese geheimen Weisheiten über Gott und die Welt sind freilich tief verborgen (Hi28; Sir24,25-34) und können nur mit speziellen Lernmethoden, wie die philosophische Allegorie oder die kabbalistische Kryptologie gehoben werden. Auch wenn hier vieles zunächst weit her geholt scheint, zielen sie auf den religionsphilosophischen Gehalt der Schrift. Sie stellen insofern wieder eine höhere Reflexionsstufe dar und ordnen die biblischen Gesetze und Geschichten im Ganzen des Seins ein. In den geheimsten Gängen der Traditionsachse finden wir also die Ausgänge zu den Transzendenz- und Transformationsachsen. Wir kommen ein letztes mal auf unsere Mischna zurück, um Deutungsmöglichkeiten auf dieser Ebene aufzuzeigen. Die Mischna selbst ist, wie J. Neusner in unzähligen Publikationen wiederholt hat, ein metaphysischer Akt. Sie setzt dem Realexistierenden Chaos contrafaktisch eine ideale halachische Ordnung entgegen, hier steckt sie die unabsichtlich entfesselten Naturgewalten in ihre zivilrechtlichen Begriffskäfige. Die Rabbinen haben den Vorrang dieser idealen Ordnung in einer für die Tora/Chochma- Spekulation typischen Aggada veranschaulicht, wonach das Gesetz, Gericht, Buße, Strafe und Erlösung usw. lange vor der Schöpfung der physischen Welt existierten (bPes54a/Ned39b) – nach einer Version 2000 Jahre vorher (rPs90,12). Dies ist eine narrative Weise den Primat des Sollens vor dem Sein, der Ethik vor der Ontologie (E. Lévinas) auszudrücken. Natürlich soll diese verkehrte Welt einmal auch auf die Füße kommen. So versteht z. B. die kabbalistische und chassidische Erlösungslehre die Weltgeschichte als Wiedergutmachung des beschädigten Lebens (Tikkun HaOlam), wozu auch ganz konkret die Wiedergutmachung der von mir zu verantwortenden Schäden gehört. Schließlich liefert unsere Mischna und Gemara reichlich Stoff für philosophische Erörterungen des Prinzips Verantwortung: wie weit hafte ich für die von mir losgetretene Gerölllawine, wie weit für unbeabsichtigte Nebenwirkungen, Spätfolgen, „Kollateralschäden“ usw.. Auf der Ebene des Weisheitserwerbs können die auf der Zeitschiene anhängigen Module in dieser Art problemorientiert behandelt werden.

III. Aufbau des Bildungsplans: Für diesen vierfachen Lernsinn gibt es in der Tradition zahlreiche Anhaltspunkte (Es7,10; Neh8,8, bNed37b), so z. B. die Lehrer- und Lernerquaternionen in der rabbinischen Literatur (mAb4,15.17.18)1, aber die schlagendste Parallele ist, obschon nicht älter als das Mittelalter, die Lehre vom vierfachen Schriftsinn, die mit der Formel PaRDeS (Garten) bezeichnet wird (wobei die Konsonanten des Kurzwortes die Anfangsbuchstaben der hebräischen Begriffe für die vier Sinn- und Deutungsebenen der Schrift sind: Pschat, „einfacher“ -, Remes, „angedeuteter“ -, Drasch, „belehrender“ – , Sod, „geheimer“ Sinn) und genau unseren Lernformen entsprechen. Keine andere Formel verkörpert heute mehr die Eigenart der jüdischen Lernkultur und zugleich ihre Vielfalt. Auf Anhieb beweist diese Formel, daß sich jüdisches Lernen bei weitem nicht fundamentalistisch auf den Buchstaben der Schrift (Pschat) beschränkt, sie verlangt vielmehr seine logische, ethische, philosophische und mystische Vertiefung. Zu weiterer Information über den vierfachen Schriftsinn im Judentum darf ich vielleicht auf mein soeben erschienenes Buch zu diesem Thema verweisen.2

Die Lehre vom vierfachen Lern- und Schriftsinn kann mit einem gestuften Entwicklungsmodell verbunden und zur Einrichtung eines Bildungsplans verwendet werden, wie wir das im beiliegenden Bildungsplan für die jüdische Religionslehre in Baden-Württemberg schon einmal versucht haben. Dabei wird ein positives, ein logisches, ein kritisches, ein systematisches Lernalter unterschieden und mit den vier zweijährigen Zyklen des Religionsunterrichts abgestimmt. So dominiert in der unteren Sekundarstufe I (5-6. Klasse) das stoffbezogene mnemische Lernen, in der mittleren Sekundarstufe I (7.-8.Klasse), das begriffsbezogene logische Lernen, in der oberen Sekundarstufe I (9.-10.), das wertbezogene ethische Lernen, und in der Sekundarstufe II (11.-12.Klasse) das problembezogene philosophische Lernen.

Voraussetzung zu allem ist freilich die „Alephbetisierung“ in der Primarstufe. Hebräische Lesekompetenz erworben und an alters- und „zeitgemäßen“ Texten aus der Bibel und dem Gebetbuch geübt zu haben, stellen eine minimale Voraussetzung für den Besuch des jüdischen Religionsunterrichts in den höheren Schulstufen dar. Heute muß der jüdische Religionsunterricht freilich in allen Schulstufen mit Quereinsteigern aus dem jüdischen Flüchtlingskontingent ohne Hebräisch- und Religionskenntnissen rechnen. An sich sind diese Neulinge im jüdischen Religionsunterricht hoch willkommen, aber wie in anderen Fächern, müssen sie auch hier in Förderklassen das entsprechende Niveau erreichen. Sonst kommt der Religionslehrer zumal in Klassen, wo diese Schülerkategorie in der Überzahl ist, nie über den Nullpunkt hinaus, er kann die Konsekutivität des Bildungsplans nicht durchhalten und die traurige Konsequenz ist, daß Analefbeten den mittleren oder höheren Schulabschluß in jüdischer Religionslehre schaffen.

Hier müssen wir uns auf eine kurze Skizze des Bildungsplans von der Primar- bis zur Sekundarstufe II beschränken. Auf der laufenden jüdischen Zeitschiene wird im Zweijahresrhythmus von der Primar- bis zur Sekundarstufe II sechs Mal die gleichen Module mit immer höheren Ansprüchen aufgelegt. Nehmen wir zum Beispiel das Modul „Schabbat“. In den beiden Durchläufen in der Primarstufe, wo der erzählerische, gestalterische und gesangliche Zugang im Vordergrund steht, kann der Schabbat anhand der Heiligung für den Schabbatabend nacheinander im Zusammenhang mit der Schöpfungserzählung (Sikaron LeMa’asse Bereschit) und der Befreiungserzählung (Secher Lizijat Mizrajim) gebracht werden. In der unteren Sekundarstufe I, kann dann das Schabbatgebot im Zusammenhang mit den beiden Versionen der Zehn Gebote behandelt werden. In der mittleren Sekundarstufe I können die Details des Arbeitsverbotes (Lamed“Tet Melachot) im Zusammenhang mit der Mischna (mSab7,1) ausgeführt werden. In der oberen Sekundarstufe I können gemäß der moralischen Dominante die psychologischen und therapeutischen Bedeutungen des Schabbats, wie z. B. das Freigeben und – nehmen, das Atemholen in einer atemlosen Welt der Produktion und des Konsums, die geistige Erschöpfung und schöpferische Pause diskutiert werden. In der Sekundarstufe II schließlich kann die kulturkritische und metaphysische Bedeutung des Schabbat als Seinskategorie im Gegensatz etwa zum Haben (Transzendenzachse), sowie die eschatologische Bedeutung des Schabbats als Antizipation der messianischen Zeit, als Vorwegnahme des ewigen Friedens usw. (Transformationsachse) erörtert werden. Nach sechsmaliger Behandlung dürfte diese Schraube fest sitzen. Aber das ist nicht alles. Für die Kalenderorientierung ist entscheidend, daß der Schabbat kein abstraktes Thema bleibt, sondern immer ein ganz bestimmter Schabbat mit seinem Wochen- und Prophetenabschnitt ist, daß er ein reales Geschehen in der Gemeinde und Familie, mit seinen Ritualen und Gebeten ist, daß er verbindliche Gebote und Verbote für den Einzelnen mit sich bringt. Das Modul Schabbat muß an den realen, konkreten, praktischen Schabbat heranführen. Gewiß, man kann den Schabbat in der Stunde simulieren und man kann die Stunde nicht auf den Schabbat legen, aber die Niveaukonkretisierung muß Übergänge vom gelernten zum gelebten Schabbat vorzeichnen.

1 Die Bevorzugung der Vier bei derartigen Typologien hängt damit zusammen, daß sie mathematisch alle möglichen Kombinationen eines Paares gegensätzlicher Eigenschaften darstellt. Ein Beispiel: Die rabbinische Allegorie des Feststraußes des Laubhüttenfestes (Arba‘a Minim, 323,40). Dieser bestand nach der biblischen Vorschrift aus einem Palmstengel, zwei Bachweidenzweigen, drei Myrtenzweigen und einer Zitrusfrucht. Die vier Sorten besitzen gegensätzliche Eigenschaften: Die Palme hat eine Frucht, aber keinen Duft, die Myrte einen Duft, aber keine Frucht, die Bachweide weder Duft noch Frucht, und der Zitrusbaum sowohl Duft wie Frucht. Diesen vier Sorten werden vier religiöse Typen zugeordnet. Der Duft steht für Wissen und die Frucht für gute Werke. Die Zitrusfrucht symbolisiert den religiösen Idealtypus mit Wissen und Werken, die Myrte den kultivierten Typus mit Wissen ohne Werke, die Palme den engagierten Typus mit Werke ohne Wissen und die Bachweide den ignoranten Typus ohne Wissen und Werke.

2 Vgl. mein Buch, Im Garten der Schrift. Wie Juden die Bibel lesen, Regensburg 2006

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