Warum brauchen wir Bildungsstandards? Jüdischer Religionsunterricht am Beispiel einer mittelgroßen jüdischen Gemeinde

J. Schmidt-Weil HfJS Heidelberg, 23.10.2006

Warum brauchen wir Bildungsstandards? Jüdischer Religionsunterricht am Beispiel einer mittelgroßen jüdischen Gemeinde

  • Religionspädagogische Unterrichtsforschung im Kontext jüdischer Gemeinden in Deutschland

Meine Dissertation behandelt das identitätsformenden Potential des Religionsunterrichts in jüdischen Gemeinden, der nicht herkömmlich professionalisiert erscheint. Um dieses Potential zu erforschen, wurden von März 2001 bis Juli 2003 7 jüdische Gemeinden in Deutschland (2 Klein-, vier Mittelgemeinden und eine Großgemeinde) besucht. Die Gemeinden, die in 6 verschiedenen Bundesländern liegen, bieten je nach Gemeindegröße und entsprechender Infrastruktur Unterricht für Erwachsene und Schüler zumeist in gemeindeinternen Unterrichtsräumen an.

Die methodische Basis bildet eine ethnografische Studie, die sich aus Interviews und teilnehmenden Beobachtungen zusammensetzt. Interviews zielen auf die individuelle Blickrichtung jüdischer Identität von Jugendlichen, d.h. ihr jüdisches Selbstverständnis, ihr Bezug zu Gott und religiöser Praxis und ihr Interesse am RU sollen erhellt werden. Insgesamt wurden 13 Interviews mit 10 Mädchen und 3 Jungen im Alter zwischen 11 und 20 Jahren durchgeführt davon 10 Schüler mit Migrationshintergrund, die zwischen 3 Monaten und 13 Jahren in der Bundesrepublik lebten. Die Interviewdurchführung orientierte sich an problemzentrierten Interviews, für deren Auswertung die Qualitative Inhaltsanalyse genutzt wurde.

Ein grundsätzliches Problem, das sich neben einem starken Anonymisiserungswunsch der Gemeinden und damit verbundenen eingeschränkter Beschreibungsmöglichkeiten ergab, bildete die unzureichende Forschungs- und Quellenlage zum jüdischen Religionsunterricht in deutschen Gemeinden heute, lediglich die jüdische Grundschule Berlin wurde bislang ethnografisch untersucht. Aus dieser Situation wurde es notwendig in einer ersten Feldphase ein entsprechendes Instrumentarium zu entwickeln, das zu Interviews und Beobachtungen Leitfragen für Lehrerinterviews, Schülerfragebögen und Kriterien für eine Lehrplanbetrachtung beinhaltete, doch wurden Lehrpläne nicht generell verwendet, noch waren sie überall zugänglich. Schülerfragebögen wurden von 55 der insgesamt 92 beobachteten Schüler (24 Jungen, 31 Mädchen). Beantwortetet. Das Gros der Schüler kam mit über 70% aus der ehemaligen UDSSR, besuchte mehrheitlich ein Gymnasium und stammte aus Mittelschichtsfamilien. An den Bogen schloss sich eine Dilemmageschichte mit Fragen zur religiösen Urteilbildung (Oser 1984) an, die Aufschluss über religiöse Denk- und Argumentationsweisen der Befragten geben sollten.

Alle beobachteten Lehrer der 7 Gemeinden, deren Alter zwischen 30 und 65 Jahren lag (Gemeinde 4). darunter 2 Frauen, wurden in einem Leitfadeninterview mündlich befragt. Sie stammen überwiegend aus Israel, aus Deutschland und ein Pädagoge aus der Ukraine. Nur zwei der Unterrichtenden können als ausgebildete Pädagogen bezeichnet werden. Drei der Lehrer sind Rabbiner bzw. Kantor. In Hinsicht auf die Denomination ordnen sich 5 der Befragten einer orthodoxen Richtung zu.

Die Beobachtungen zielten darauf die Komplexität von Unterricht, die Initiierung, Bewahrung und Entfaltung jüdischer Identität im Vermittlungsprozess, zu erfassen. Insgesamt wurden vom 19.06.2001 bis zum 9.7.2003. 77 Unterrichtsstunden in Form einer teilnehmenden Beobachtung beigewohnt. Durchschnittlich wurden pro Gruppe 3 Doppelstunden (2 mal 45 Minuten) besucht, wobei in einer Gemeinde nur 2 Besuchstunden gewährt, in einer anderen zusätzliche Hospitation 1 Jahr später als Längsschnittuntersuchung ermöglicht wurden.. Die direkten Mitschriften bei der Unterrichtsbeobachtung, Interviews, Unterrichtmaterial und informelle Gespräche dienten als Stützpunkte, um Formen der Vermittlung jüdischer Identität wahrnehmen zu können und danach ein Gemeindeprofil zu erstellen, zu denen die Schülerinterviews in Bezug gesetzt wurden. Die Auswertung der Daten erfolgte ansatzweise nach dem Konzept der Grounded Theory und nach der Methode der qualitativen Inhaltsanalyse. Als grundsätzliche Struktur zeigt sich ein Unterricht der sich in sprachliche, religiöse und historische Schwerpunkte untergliedert, aber auch aktuelle Probleme der Schüler aufgreift. Mischformen dieser Typen sind fast in allen beobachteten Gemeinden zu finden.

 

  • Profil des Religionsunterrichts in Gemeinde 2

Gemeinde 2 ist eine Kleingemeinde in einem der neuen Bundesländer. Nach einem ersten Kontakt, fand im Sommer 2001 ein Gespräch mit dem Gemeindevorsitzenden und neuen Rabbiner statt, der gleichzeitig als Kantor & Lehrer tätig sein sollte. Nach Absprache fanden 4 Hospitationen zum Jahresende 2001 statt.

1. Entwicklung und Struktur der Gemeinde

Gab es nach 1945 etwa 600 jüdische Personen in der Gemeinde 2, vorwiegend DPs, sank die Gemeinde-mitgliederzahl zu DDR – Zeiten bis 1989 auf lediglich 25 Personen, stieg jedoch sprunghaft durch den Zustrom der russischen Zuwanderer an und umfasste im Jahr 2001 wieder 500 Mitglieder. Dazu gehören 70 Jugendliche zwischen 12 und 21 Jahren. Da die Räumlichkeiten für die anwachsende Gemeinde zu klein wurden, entschloss man sich ein neues Gemeindezentrum zu erbauen, das im September 2001 fertig gestellt wurde und Lehr-, Spiel- bzw. Veranstaltungsräume einschließt.

G’ttesdienste finden in der schon zur DDR Zeiten gebauten Synagoge regelmäßig nach traditionell – liberalem Ritus statt und sind gut besucht, so der Vorstand. Der finanzielle Bedarf durch die Erweiterung war und ist nicht durch eine Gemeinde alleine zu bewältigen. Mitte der 90iger Jahre wurde mit dem Bundesland ein Staatsvertrag geschlossenen, der finanzielle Unterstützung gewährt. Hinsichtlich der Situation der Juden in der ehemaligen DDR muss auch das Sicherheitsproblem angesichts eines flächendeckenden Rechtsradikalismus angesprochen werden, das durch einen Brandanschlag auf die Synagoge im Jahr 2000 schmerzlich erkennbar wurde.

Intern kennzeichnet sich die Situation dieser wie auch anderer Gemeinden durch 2 wesentliche Probleme: Russisch wurde zur vorherrschenden Sprache und es bestehen wenig Kenntnisse der Mitglieder über das Judentum.

Um dem Problem entgegenzutreten wurde das Augenmerk auf die Jugendarbeit gelenkt, die sich vor der Eröffnung des Zentrums überwiegend auf jüdische Feiern konzentrierte. Dieses Angebot reichte keineswegs aus, die Jugendlichen anzubinden und dabei erfolgreich mit säkularen Angeboten zu konkurrieren.

Wie sich in der Praxis zeigte, so der Vorsitzende, erlischt das Interesse der zugewanderten Mitglieder, wenn sich diese im Zuwanderungsland etabliert haben. Um das Interesse der Jugendlichen zu wecken, sind diverse Strategien wahrnehmbar:

a) Teilnahme an Gemeindeveranstaltungen sind nicht nur freiwilliger Natur, sondern werden gefordert, d.h. Fehlenden, drohen Konsequenzen, die z.B. eine beschränkte Nutzung von gewissen Gemeindeangeboten (z.B.Machanot) zur Folge hat

b) Um attraktive Angebote möglich werden zu lassen, werden zusätzliche Gemeindegelder erhoben und

c) Im Jugendzentrum werden Sport-, Spiel- und Musik – Aktivitäten nebst Betreuung bereitgestellt, um zu Freizeit-Aktivitäten außerhalb der Gemeinde Alternativen zu bieten. Einen weiteren Anreiz bildet die Gruppe der ZJD.

Insgesamt befindet sich die Gemeinde in einer Umbruchsituation hinsichtlich des Religionsunterrichts, des Rabbiners und des Neubaus. Diese Veränderungen schaffen Unsicherheiten, die durch die Gemeinde als Ganzes bewältigt werden müssen.

2. der Religionsunterricht

2.1 Äußere Modalitäten

Ein Religionsunterricht, der bis zum Herbst 2001 nur für 3 Schüler stattfand, die regelmäßig durch einen anderen Rabbiner unterwiesen wurden, sollte mit dem neuen Jugendzentrum auf einen regulären Unterricht mit allen schulfähigen Kindern u. Jugendlichen ausgeweitet werden. Das ursprüngliche Schülerklientel wuchs auf 17 Schüler. Während in den meisten Gemeinden zwei oder höchstens 4 Stufen gebündelt wurden, erstreckt sich hier der Zusammenschluss hier auf 8 (Klasse 5-12) Stufen. Ungewöhnlich erscheint auch die Unterrichtszeit des Religionsunterricht Sonntags um 12 Uhr, die allerdings als Sunday School in den USA auf eine lange Tradition stößt. Grundsätzlich bietet die vorgegebene Unterrichtszeit den Vorteil einer möglichen höheren Konzentrationsfähigkeit als nach einem langen Schultag. Das Ambiente des Unterrichtsortes trägt positiv dazu bei, sich mit anderen Jugendlichen hier treffen zu wollen. Der Unterrichtsraum ist geräumig, wirkt aber steril.

2.2 der vorläufige Lehrplan auf gesetzlicher Basis für einen zukünftigen Religionsunterricht

Zwar gilt Jüdische Religionslehre gemäß § 46 des Schulgesetzes im Freistaat Thüringen als ordentliches Schulfach, doch kann zum Zeitpunkt der Hospitation noch nicht von einem Schulunterricht gesprochen werden. Die Gemeinde muss einen Antrag stellen, damit die Bedingungen geprüft werden, die einen Religionsunterricht als Schulfach zulassen. Es existiert ein vorläufiger Lehrplan für Jüdische Religionslehre, der nach Auskunft des Kultusministeriums in Absprache mit der Jüdischen Landesgemeinde erarbeitet wurde. Die noch kurze Aufenthaltszeit des Lehrers in Deutschland und die unterschiedliche Voraussetzungen der Schüler schienen den Einsatz eines Lehrplans für die einstündige wöchentliche Unterweisung nicht möglich zu machen. Der Lehrplan soll dennoch betrachtet werden. Im Lehrplan werden keine expliziten Angaben zur entwicklungspsychologischen Typologie der Schüler, zur Didaktik oder zu differenzierten Lernzielen gemacht. Er unterteilt die Klassenstufen 1-12, denen Themenbereiche zugeordnet sind: In der Grundschule befasst man sich mit der Tora und ihrem Aufbau, mit Feiertagen, Schabbat und verschiedenen Segenssprüchen. Neben dem Kennen lernen der Synagoge sollen im Hebräischunterricht alle Buchstaben gelernt werden. Die Sekundarstufe I greift die Ebenen Tora, Hebräisch und Feiertage auf und bezieht Gebete, Sitten und Gebräuche, Gesetze und Gebote ein. Später treten Tanach (Klasse 7) und jüdische Geschichte (Klasse 9) hinzu. Die Oberstufe ist als Kursplanung für 4 Halbjahre konzipiert und empfiehlt als Oberthemen: >das jüdische Jahr < mit dem Schwerpunkt Schabbat sowie >Ethik und Moral< mit den Schwerpunkten Familie, Kaschrut, Tod und Trauer. Die Materialempfehlungen der Oberstufe deuten auf einen fortgesetzten Hebräischunterricht-, auf die Einführung in Talmud und Midrasch und die Behandlung der Parascha Haschawua. Methodische Hinweise bestehen für die Grundschule (Geschichten, Lieder), für die 5.-8. Klasse wird u.a. das Lesen im Siddur herausgehoben. Für die Oberstufe fehlen solche Anweisungen, es ist jedoch anzunehmen, dass Erörterung und Diskussion bezogen auf Talmud, Midrasch und Wochenabschnitt Anwendung finden sollen. An Gebeten werden explizit Brachot, das Birkat Hamazon (1-4), das Schma Israel oder das Morgengebet (5-6). genannt. Der Lehrplan bezieht sich vornehmlich auf Wissensstrukturen, die das Judentum im Hinblick auf jüdische Lebensführung erhellen. Hebräisch wird zu einer wichtigen Komponente bis in die Oberstufe, um jüdische Identität zu stiften. Im Hinblick auf Geschichte und Philosophie muss der Lehrplan als insuffizient betrachtet werden, so endet die jüdische Geschichte im Mittelalter. Der Bezug zum Staat Israel andererseits wird mit dem Thema Jom Ha‘azma’ut in der Sekundarstufe I einbezogen. Es konnte nicht ermittelt werden, ob der Lehrplan zuvor benutzt wurde

2.3 Die Konzeption des Unterrichts

Der Unterrichtsplan des beobachteten Unterrichts ruht auf dem individuellen Konzept des neuen Rabbiners. Dessen noch währende Konsolidierungsphase verpflichtet ihn zur Absprache mit dem Vorstand. Der Lehrer ist in Israel geboren und befindet sich mit seiner Familie zum Interviewzeitpunkt seit 1 Woche und zur Zeit der Hospitationen seit ungefähr 3 Monaten in Deutschland. Seine Ausbildung erfolgte an einer orthodoxen Yeshiva in Jerusalem, an der er auch ordiniert wurde. Später hat er u.a. als Lehrer in der ehemaligen UDSSR für einige Zeit gewirkt. Es ist von der anzunehmen, dass ihm das deutsche Bildungssystem fremd ist. Ob er überhaupt eine pädagogische Ausbildung erhalten hat, bleibt undeutlich, doch verweist der Rabbiner wiederholt auf seine praktischen Erfahrungen in Russland, zu denen er keine weiteren Ausführungen macht. Doch auch Ungesagtes gibt Auskunft und der Eindruck erhärtete sich, dass der Rabbiner sich erst in das System eines anerkannten Religionsunterrichts in Deutschland einarbeiten muss, um die hiesigen Prinzipien zu verstehen. Eine wissenschaftliche Unterstützung für den Unterrichtsrahmen stehe ihm nicht zur Verfügung.

Dies sei aber unproblematisch, da er den Stoff souverän beherrsche. Sämtliche Vorbereitungen, die er auf die Arbeit mit den Siddurim stützt, beschreibt er in ihrer Entstehung als intuitiv. Indem er seine Planung als Intuition erklärt, wird dieselbe allerdings kaum nachprüfbar. Das intuitive Moment wird erneut betont, wenn er sich ablehnend einem Lehrplan gegenüber sieht, der Druck erzeugen könne. Es existiere auch kein ihm bekanntes Konzept, das Religion nach seinen Ideen integriere. Insofern plant der Rabbiner offenbar nicht, den vorliegenden Lehrplan zu nutzen. Man könnte vermuten, dass er den Lehrplan zurückweist, weil die Erarbeitung durch seine mangelnden Deutschkenntnisse erschwert ist. Als Material werden für den Hebräischunterricht ausschließlich Kopien verwendet. Obwohl der Rabbiner explizit auf Siddurim hinweist, benutzt er diese (noch) nicht im Unterricht

Doppelangebot oder Dreiteilung?

Der obligatorische Religionsunterricht der Gemeinde gliedert sich in 2 Teile: Hebräisch und Religion. Ein dritter fester Bestandteil zeigt sich in der freiwilligen Gruppe der zionistischen Jugend, die stets im Anschluss an den Unterricht stattfindet und etwa eine Stunde dauert. Hebräisch und Religion werden im Regelfall ca. 30 Minuten unterrichtet. Dabei kann es passieren, dass in einer Woche nur Religion oder nur Iwrith vermittelt wird. Es ist anzunehmen, dass die Zeitstrukturen den Schülern dadurch unverbindlich erscheinen. Eine neue Unterrichtsstruktur kündigt sich in der 4. Hospitation an: War der Unterricht bisher nicht schulisch anrechnungsfähig, soll sich dies zukünftig ändern. Auch die Unterrichtszeit wird aus diesem Grund auf einen Werktag am Nachmittag gelegt und soll 2 Stunden, wie es dem Gesetz nach für die Klassen 5-12 vorgeschrieben ist, dauern. Nach den Bedingungen des Kultusministeriums müssten diesem Unterricht mindestens 8 Schüler beiwohnen. Diese Vorgaben zeugen von einer anderen Verbindlichkeit als zuvor, insbesondere wenn man die unterschiedlichen Schülerzahlen in den Hospitationen trotz eines Anwesenheitszwangs betrachtet. War die Schülerzahl zunächst auf 17 angewachsen, ging sie zur 4. Besuchsstunde auf 10 zurück. Trotz verschiedener Unklarheiten ist für die Schüler sofort deutlich, dass mit einem Regulärunterricht auch die Notengebung eingeschlossen ist.

2.4 Verkehrssprache russisch: Brücke oder Hindernis?

Alle Schüler, in wenigen Fällen nur deren Eltern, gehören zu den aus der ehemaligen UDSSR emigrierten Zuwanderern.

Einen Problempunkt der Jugendlichen stellen die Sprachkenntnisse dar. Da auch die Eltern überwiegend über geringe Deutschkenntnisse verfügen bleibt russisch Alltags-, Umgangs- und Verkehrssprache der Schüler zu hause und in der Gemeinde. Weil der neue Rabbiner und seine Frau ebenfalls kein Deutsch reden, wurde auch die Unterrichtssprache auf russisch festgelegt. Dergleichen mag vorteilhaft sein, wenn der Lehrer auf russisch zu den Mitgliedern gute Kontakte aufbauen kann. Die Zuwanderer können damit in der Gemeinde über die sprachliche Verbindung die gemeinsame Herkunft betonen und sprechend aufrechterhalten. Es ist jedoch zu vermuten, dass sich alle Mitglieder, die nicht russisch oder hebräisch sprechen, ausgegrenzt fühlen müssen. Im Hinblick auf ein Integrationsziel, das die Gemeinde auch statutengemäß proklamiert, scheint jedoch diese Entscheidung kaum dienlich, weil die sprachliche Progression im Einwanderungsland nachteilig nicht gefördert wird. und ggf. in eine sprachliche Ghettoisierung führen kann.

3. Unterrichtsdimensionen

31. Inhalte

Der Unterricht wird inhaltlich bestimmt durch einen hebräisch Anfangsunterricht (Einführung der Buchstaben Gimel, Dalet, He, Waw, Leseübungen und Wortschatzarbeit) und die Zugrundelegung eines begriffsorientierten religiösen Basiswissens.

3.2 Methodik: Monotonie versus Originalität

Merkmale eines qualitativ guten Unterrichts bilden einerseits Neueinführungen und andererseits Wiederholungen des Gelernten. Beide Vermittlungselemente sind auch hier anzutreffen, zeigen sich in langen Phasen des Sprach- und Religionsunterricht jedoch als relativ schwerfällig. Lehrer und Lehrerin, der Rabbiner und seine Frau, bestimmen den Ablauf, der als sehr lehrerzentriert bezeichnet werden kann. Diese Organisationsform ändert sich folgend nicht.

3.3. Sprachunterricht: Hebräisch

Der Sprachunterricht in Hebräisch gilt als wichtiger Bestandteil der Religionsunterweisung, insofern Hebräisch zur Voraussetzung wird, um dem G’ttesdienst folgen zu können und sich in Begrifflichkeiten des Judentums zurechtzufinden. Die Schüler haben bisher kaum einen Kontakt zur hebräischen Sprache gehabt, weder im G’ttesdienst, noch als Kommunikationssprache. Deshalb ist entschieden worden, einen Sprachanfangsunterricht durchzuführen, der sich zunächst auf das Erlernen der neuen Schrift konzentriert. Bis zur ersten Hospitation waren die Schüler bereits 3 Stunden Hebräischen unterwiesen worden und hatten Aleph und Bet, sowie die Punktuation kennen gelernt.

Der Beginn des Unterrichts wird gewöhnlich durch eine russische und hebräische Begrüßung eingeleitet. Danach setzt der Sprachunterricht ein, zumeist verzögert durch organisatorische Belange, die bis zu 1/2 Stunde dauern können. Das lange Verweilen in der Organisation könnte auf eine gewisse Unprofessionalität deuten, Der durch die Lehrer gesetzte Unterrichtsbeginn jedenfalls wirkt nicht verbindlich. Unterbrechungen erfährt der Unterricht weiterhin durch Zuspätkommer, die einzeln (3. Stunde), paarweise (1. Stunde) oder in Grüppchen (2. Stunde) nachströmen. Im Verlauf der Besuche werden die Buchstaben Gimel, Dalet, He und Waw eingeführt, je nach Zeitreservoir 1 oder 2 Buchstaben pro Sitzung. Zu jedem neuen Buchstaben wird ein Arbeitsblatt mit Illustration verteilt. Die Schüler sollen wiederholt den russischen Begriff nennen und darauf den Hebräischen. Das gelingt selten, denn die Schüler vergessen die eben genannten Wörter und fragen oft nach.

Die einsetzenden Übungsreihen erscheinen nicht sehr aufregend, gleichen einem mechanischen Lesetraining und erinnern damit an einen behavioristisch orientierten Sprachunterricht: „U bu vu gu du hu wu“ und „O bo vo go do ho wo“, sowie „he ha ho ho“, und „ve va vo vo“.

Die intensiven Wiederholungen innerhalb des Unterrichts, die dem Einschleifen und Festigen des Gelernten zugute kommen, fallen ins Auge. Wiederholungen haben von sich aus den Charakter, weniger spektakulär zu sein, doch die hier auftretende Gleichförmigkeit macht es den Schülern nicht leicht: Man liest, übersetzt, liest und übersetzt. Die Schüler kommen nach der Sitzordnung an die Reihe.

Die kopierten Arbeitsblätter deuten zudem ihrem Charakter nach auf Grundschulmaterial. Zum Buchstaben He wird ein Arbeitsblatt verteilt, das einen Teddybär und eine Puppe zeigt, auf einem anderen Blatt sind viele Luftballons erkennbar, in denen verschiedene Wörter stehen. Die Jugendlichen nehmen das Material hin, es ist zu vermuten, dass sie Hebräisch im Rahmen des Unterrichtsstils und der Kopien, zumindest latent, als etwas wahrnehmen, dass sie als „Kinderkram“ abtun. Die Lese- und Übersetzungsübungen werden in den beobachteten Stunden wenig verändert, so ist es nicht erstaunlich, wenn sich unweigerlich ein Konzentrationsverlust einstellt. Die Jugendlichen beginnen sich gegenseitig abzulenken. Dadurch wirkt die Atmosphäre zeitweilig angespannt. Obwohl die Vokabeln als Hausaufgabe zu lernen waren oder ein Wort kurz zuvor genannt wurde, trifft der Lehrer stets auf zahlreiche unwissende Schüler, wenn er nachfragt. Neben der methodischen Eintönigkeit könnte es sein, dass auch der Gegenstand des Unterrichts auf kein Interesse stößt. Als Sprache des Liturgie kann dann kein Interesse für Hebräisch vorliegen, wenn auch der G’ttesdienst nicht relevant für die Schüler ist. Diese Annahme scheint sich durch die Antworten im Fragebogen zu bestätigen, denn kaum ein Schüler geht in die Synagoge. Auch als Kommunikationsmedium erscheint die Sprache weniger wichtig, da sich niemand der Befragten eine Auswanderung nach Israel vorstellen kann. Dem steht jedoch das hohe Interesse der Schüler an der zionistischen Jugendgruppe gegenüber. Für die zwei oder drei Schüler, die schon vorher Hebräisch lernen konnten ergibt sich weiterhin das Problem, dass sie mittlerweile ein 3. Mal, die „Sprache beginnen“ und weder Fortschritte machen können noch gefordert sind.

3.4 Religionsunterricht

Wird in Hebräisch mit Buchstaben und einfachen Worten gekämpft, setzen sich die Schüler im Bereich Religion überwiegend mit Begriffen aus dem Kultus auseinander. „Diese gehören“, so erklärt die Rebbezin, „zum Grundstock des jüdischen Wissens.“ Sie wäre sich aber darüber bewusst, dass sie den Schülern kaum bekannt sind. Aus Sicht der Lehrer müssen demnach identitätsbildende Strukturen des Jüdischseins auf der Basis eines begrifflichem Wissen erwachsen. Das religiöse Basiswissen bezieht sich auf Lebensphasen (Bar/ Bat Mizwa), Symbole, (Tefillin), Gebete (Kaddisch, Schma Israel) und Feiern (Chanukka). In den meisten Fällen erfolgt eine eilige Erklärung durch den Rabbiner oder der Rebbezin. Eine längere Erläuterung wird dem Zentralgebet des Judentums, dem Schma Israel, gewidmet, das dem Lehrplan nach in Klasse 6 und 9 Thema wird „Dies ist das Gebet, das jeder Jude kennt. Woher stammt es? Vom >Höre Israel, G’tt ist der Einzige< in der Tora. Es wird zu Schacharit und Ma’ariv von Männern und Frauen gebetet.“

Der Lehrer deutet auf die Herkunft des Schma in der Tora, weist auf die Gebetszeiten hin und stellt den Aufbau dar, indem er die 3 Gebetsabschnitte nennt, die mit einem abschließenden Segensspruch, der „Erlösung“ enden. Wie weit die Schüler mit dem Konzept der „Erlösung“ vertraut sind, ist aus ihren Reaktionen schwer erkenntlich.

Eine weitere sehr gründliche Darstellung zeigt u.a. ein längeres Lehrernarrativ zum Thema Chanukka (4. Stunde). Chanukka wird im Lehrplan im Hinblick auf historische Hintergründe in Klasse 6 vertieft. Wer wisse denn schon etwas über dieses Fest, so wendet sich der Rabbiner an die Schüler. Man könnte annehmen, dass sich die Schüler auskennen, da sie im Vorjahr eine Aufführung zu Chanukka einstudiert hatten. Offenbar gab es keine Hinweise zum Hintergrund des Festes, doch 2 Schüler erinnern sich immerhin noch an markante Merkmale, die 8 tägige Feier und Lichter. Mit seinem Impuls „Erinnert ihr euch an den Krieg zwischen Juden und Griechen?“, lenkt der Rabbiner die Aufmerksamkeit auf die kämpferischen Auseinandersetzungen. Als er wahrnimmt, dass die Schüler sich nicht erinnern, holt er weiter aus. Das weitere Vorgehen lässt keine Fragen zu und die Schüler nehmen Gesagtes passiv auf. Der Rabbiner berichtet über die Griechen, die den Tempel besetzten und entweihten. Es gibt weder Texte zur Thematik noch ein Gespräch. Solch detaillierte Darstellung finden sich nicht häufig im Unterricht, u.a. bedingt durch den schon benannten Zeitmangel.

Ein Nachfragen im Religionsunterricht findet generell selten statt, zumal die Lehrer den Schülern kaum Zeit dafür geben. Eine Ausnahme bildet z.B. eine Rückfrage einer älteren Schülerin zum Themenfeld Bar/ Bat Mizva. Bar/ Bat Mizwa impliziert die Anerkennung des Jugendlichen als vollwertiges Gemeindemitglied. Das Interesse der Schüler überrascht nicht, da kaum jemand Bar/ Bat Mizva durchgeführt hat, wie die Fragebogen zeigen. Nur 2 von 8 Schülern wurden entsprechend in die Gemeinde eingeführt. Wenn man mir der Bar/Bat Mizwa als vollwertiges Gemeindemitglied akzeptiert ist, erscheint es schlüssig, dass die Fragerin, die diese Einführung nicht erhielt, ihren Status als Gemeindemitglied klären will. Doch erhält sie wenig weitere Informationen. Auffällig sind ferner die wenigen Veranschaulichungen, um z. B. einen Kultusgegenstand den Schülern näher zu bringen. Die Schüler zeigen in diesen Situationen erhöhtes Interesse, doch werden in den i.g.4 Stunden lediglich 2 Kultusgegenstände näher gezeigt (Zizit durch den Rabbiner und Tefilin durch die Rebbezin).

Die Wiederholung des Gelernten im Religionsunterricht erscheint für die Schüler ähnlich unvergnüglich wie im Sprachunterricht. Beim 2. Besuch werden alle Begriffe der vorhergehenden Stunde abgefragt, aber größtenteils wissen die Schüler nicht mehr, worum es sich handelt. Offenbar hat sich niemand Notizen gemacht. Auch die Lehrer sahen wohl keine Notwendigkeit, ein Tafelbild, obwohl eine Tafel vorhanden ist, oder ein Übersichtsblatt herzustellen. Das Frage- Antworte Ritual bestimmt fast die gesamte Religionsphase. .Ähnlich den Wiederholungen sind auch die Hausaufaben ohne größeren Anreiz gestellt. Der Unterricht im Überblick prononciert die kognitive Aneignung des Stoffes, während die rituelle Praxis periphär thematisiert bleibt.

Welche Schlussfolgerungen ergeben sich daraus?

Es ist anzunehmen, dass Schüler aufgrund ihres Entwicklungsstandes einer intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Judentum offen und interessiert gegenüberstehen. Dass sie ebenso an ritueller Praxis Interesse haben, verdeutlicht sich nicht nur durch die hohe Aufmerksamkeit bei Kultusgegenständen, sondern auch in der Zielrichtung ihrer wenigen möglichen Fragen. Kultus außerhalb des Unterrichts muss damit zu Hause, im G’ttesdienst oder bei einer Feier verortet sein und auffordern, mitzutun. Wenn aber zu Hause kein Ritus gepflegt wird und kaum jemand in die Synagoge geht, ist der Ritus unter den Jugendlichen der Gemeinde 2 womöglich nur auf wenige Feiern beschränkt. Damit stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Wissen und Kultus im Unterricht.

3.5 Emotionale Momente Motivationsnischen

In und außerhalb des Unterrichts ergeben sich verschiedene Situationen, die der Monotonie entgegenwirken und zeigen, wie Lernanstrengungen abgebaut, das Interesse entwickelt und eine positive Atmosphäre aufgebaut wird.

3.3.1 im Kernunterricht

Im Hebräischunterricht treten die Sequenzen in den Vordergrund, die mit Humor versetzt sind und damit eine Unterbrechung und Auflockerung in den trockenen Lesephasen bieten. Dadurch ist ein Kanal gefunden, in den Frustration und Langweile auf natürliche Weise und ohne Streit abgeleitet werden können. Zur Übung des vokalisch gebrauchten Waw lesen die Schüler in der 4. Stunde Konsonantenreihen wie „dagu dadu häbo wihu hodu“, deren Herunterleiern Heiterkeitsausbrüche auslösen.

3.3.2 Nischen außerhalb des Kernunterrichts

Vor und nach dem Unterricht stehen oder sitzen die Jugendlichen in kleinen Gruppen zusammen und plaudern,. Hier können sie frei und zwanglos miteinander sprechen. Bemerkenswert ist das Engagement der Jugendlichen in der zionistischen Jugendgruppe, der ZJD, die seit kurzem besteht. Alle Jugendlichen bleiben nach dem Unterricht zum Treffen und man hat fast den Eindruck, sie sind nur deshalb gekommen. Gründe dafür bilden bestimmt das gemütliche Arrangement, kreisförmige Sitzanordnung und Augenkontakt. Eine weiterer Grund für die positive Akzeptanz mag in der Freiwilligkeit der Zusammenkunft liegen, die auch nicht durch eine Anwesenheitsliste gestört wird. Wie sich herausstellt, sind die Jugendlichen trotz der Offenheit an Pflichten gebunden: Ein Vortrag ist schriftlich und mündlich darzubieten. Ein Referat zeugt von einem anderen Anspruch als eine reizlose Leseübung. Die Mischung von Freiwilligkeit und Verpflichtung scheint die Schüler anzusprechen.

Ein Vortrag in der 2. Hospitation dokumentiert die große Mühe, die der referierende Schüler investiert hat. Schülerorientierte Themeninhalte, die vor allem in Diskussionen ermöglichen, entsprechen dem Alter der Jugendlichen und ihren Erwartungen. Sie werden in die Gestaltung einbezogen und mit methodischen Finessen (Brainstorming zu Plakatimpulsen) motiviert . Sie können eigenständig und engagiert Beiträge liefern, In der Gegenüberstellung von Religionsunterricht und ZJD Treffen scheinen klassische Unterscheidungsmerkmale zum Zuge zu kommen, die auch im Vergleich zwischen Schule und Jugendarbeit anzutreffen sind. Auch wenn der hier angebotene Religionsunterricht nicht schulischen Maßstäben entspricht, so ist er doch als schulähnlich zu klassifizieren, insbesondere durch die asymmetrischen Rollenverteilung und geringe Mitbeteiligung. Die ZJD hingegegen erlaubt auf Basis der Freiwilligkeit, Erfahrungs- und schülerorientiertes Lernen. Da sich die Schüler nur an wenigen Stellen im RU einbringen können, wird sicherlich ihre Ambition geschmälert, kontinuierlich ein Interesse zu wahren. Dieses Interesse stellt jedoch die Voraussetzung dafür dar, dass überhaupt Inhalte des Judentums internalisiert werden können. Das Zurückdrängen der Schülerfragen in der Unterrichtsinteraktion schränkt schließlich ihr natürliches Autonomiebedürfnis ein. Gerade die ihnen wichtigen Themen, die für ihr jüdisches Selbstverständnis als äußerst bedeutsam angesehen werden können, scheinen aus ihrer Perspektive nicht ernst genommen zu werden. Schließlich werden auch die Bedürfnisse der Jugendlichen im Hinblick auf altersentsprechende Lernformen teilweise ausgeklammert. Weder ein ansprechendes Materialangebot, noch Diskussionen haben im Unterricht genügend Raum. Trotz der genannten Probleme, erklären 4 Schüler im Fragebogen, dass ihnen der Religionsunterricht gefiele, was natürlich keinerlei Schlüsse auf die restlichen Schüler zulässt

4. Lehrer – versus Schüler verhalten

4.1 der Lehrer

War bisher die strukturelle Dimension des Unterrichts betrachtet, so lässt sich nun fragen, wie die Personen des Geschehens, den Unterrichtsprozess und die Aneignung jüdischer Identität fördern oder hemmen.

Die didaktische Zielsetzung, die der Lehrer verfolgt, soll eine positive Einstellung zum Judentum anbahnen, um dadurch Religionswissen attraktiv zu machen. Dies erscheint als wichtige Grundlage, um die kaum mit dem Judentum in Berührung gekommen Jugendlichen, erfolgreich zu unterweisen. Doch inhaltliche Ziele bedürfen einer entsprechenden Methodik, um sie durchzusetzen. Um seine Absichten zu erreichen, würde er die Bedürfnisse der Jugendlichen in ihrer konkreten Lebenssituation, die er entwicklungspsychologisch betrachte, in den Vordergrund, stellen. Allgemein wolle er die soziale Integration fördern und offen mit Konflikten umgehen. In diesem Sinne könne er auch auf das Vertrauen der Schüler bauen, die ihn auch in seiner Funktion als Rabbiner und nicht nur als Lehrer wahrnehmen. Unterricht könne sich im Verständnis des Lehrers schließlich nur über die Schüler und ihre Mitbeteiligung vollziehen. Von Seiten des Lehrers werden unbestritten ehrenhafte Wünsche und Ziele formuliert, die jedoch mit Realsituation des Unterrichts korrelieren, so dass die Selbstbeschreibung des Lehrers Anlass zu Irritationen gibt.

Lehrerverhalten

Der Lehrer bestreitet den Unterricht gemeinsam mit seiner Frau, sie arbeiten als Team und wechseln sich auch innerhalb kürzerer Sequenzen ab. Während der Hebräischunterricht mehr unter seinen Händen ruht, steuert die Rebbezin stärker den Religionsbereich. Sie wirkt insgesamt geduldiger und kann behutsam das Interesse aufbauen, indem sie das Verständnis der Lernenden nachfragt und ggf. nochmals erklärt.

Während in der ersten Stunde häufiges Lob und der Einsatz einer sokratischen Gesprächsführung wahrzunehmen sind, die die Schüler auf den richtigen Erkenntnisweg führen soll, verzichtet der Rabbiner in den Folgestunden zunehmend auf diese Techniken. Vielleicht äußert sich in seinem Verhalten auch die Besonderheit seiner Profilierungssituation, die er bewältigen muss. Charakteristisch scheint auch, dass der Lehrer häufig Fragen stellt und ohne Schülerreaktionen abzuwarten, eigene Antworten vorlegt. Er hüpft von einem Begriff zum nächsten und kann dabei natürlich wenig auf die Schüler eingehen.

Fragen, die die Schüler selbst entwickeln, werden kurz behandelt. Beispiele dafür sind ihrer viele. Kurzantworten, die das Schülerinteresse drosseln, betreffen auch die Rebbezin. Das Interesse am Frauenminjan durch eine Schülerin, wird mit den Worten „einen Frauenminjan gibt es, aber nicht überall“ erklärt. .

Die Rabbineraussagen im Spiegel seiner Handlungen? Die Einstellung des Rabbiners zur Schülermitbeteiligung und zum offenen Umgang mit Konflikten, scheint durch die Frontalmethode und das Listenzeremoniell (Anwesenheitsliste), die den Unterricht hierarchisch strukturieren und genau anzeigen, wer die Lehrer- und Machtrolle innehat und wer nicht, widerspruchsvoll. Wenn er die Schülerbedürfnisse wirklich respektiert, wie er angibt, stellt sich die Frage, wieso er nicht anders reagiert, wenn er sieht, dass die Schüler erschöpft und unkonzentriert sind. Sein Anliegen, Differenzierungen anzubieten, wird kaum erfüllt, wie sich zum Beispiel an einem Schüler zeigt, der mehrmals Hebräischlernen für Anfänger erdulden muss. Seine Planungs- und Lehrkompetenz, die er selbst positiv bewertet, lässt im Hinblick auf die Monotonie der Übungen auf eine gewisse Selbstüberschätzung schließen. Inwieweit auf dieser Basis tatsächlich das Vertrauensverhältnis gestärkt und Inspirationen gefördert werden, kann durch einen Blick auf die Schüler beantwortet werden.

4.2 die Schüler

Hinweise zu den Schülern ergeben sich aus den Beobachtungen, aus informellen Gesprächen und Fragebogen, die 8 Schüler bereit waren auszufüllen. Nach Aussagen der Lehrers und des Vorstandes liegt das Alter der Religionsschüler insgesamt zwischen 12 und 20 ( 2 Intervieviews, 15 &16; 1 mal 12, 13, 18 und 20, 4 mal 14)Jahren. Die Fragebogenschüler stammen fast ausnahmslos aus der ehemaligen UDSSR, und besuchen ein Gymnasium. Daraus ist ersehbar, dass in den Familien Bildung und berufliche Lebensplanung einen entscheidenden Wert erfahren. Das Freizeitverhalten entspricht dem anderer Jugendlicher: Sportaktivitäten stehen im Vordergrund, die Hälfte der Befragten ist in einem Verein, man spielt ein Instrument, liest oder hört gern Musik.

Religiöser Hintergrund und Wissensstand: Zum bisherigen jüdischen Leben der Jugendlichen geben die Fragebogen nur ansatzweise Aufschluss. Es ist zu vermuten, dass die bisherige jüdische Sozialisation dieser Schüler im Ganzen wenig intensiv verlaufen ist. Brit Mila oder Bar Mizwa wurde in den wenigsten Fällen durchgeführt. Auch die gegenwärtige religiöse Praxis scheint kaum eine Rolle im Leben der Jugendlichen zu spielen. Lediglich ein Schüler geht oft in die Synagoge und betet auch dort. Die meisten Schüler besuchen selten oder nie den G’ttesdienst. Entsprechendes zeichnet sich im G’ttesdienstbesuch der Eltern ab. Die rituelle Praxis unterscheidet sich vom Wissensstand der Schüler zum Judentum. Obwohl sie sich in der Synagoge nicht so gut auskennen, zeigt sich im Hinblick auf die jüdischen Feiertage ein vorzeigbarer Kenntnisstand, da die meisten die vorgegebenen Feiertage als bekannt angeben. Aus dem Unterricht ist zu vermuten, dass die Kenntnis eher oberflächlich ist. Inhaltliches und rituelles Wissen kommt jedoch dann zum Tragen, wenn die Schüler bewerten müssen, weshalb sie einen Feiertag bevorzugen. Gründe für die Auswahl zu benennen, heißt, dass die Jugendlichen verschiedene Feste verglichen haben müssen, um ihnen einen Stellenwert beizumessen. Als bevorzugte Feiertage werden Chanukka (3), Purim (2); Shabbat und Pessah genannt. Chanukka wird wegen „Geld und Geschenken“, Purim, „weil es lustig“ ist favorisiert. Diese Begründungen spiegeln unmittelbare Erfahrungen der Jugendlichen. Das Interesse an Pessach jedoch wird auf einen abstrakten Hintergrund zurückgeführt, weil das Fest „ein Symbol der Unabhängigkeit“ sei.

Einstellungen zum Unterricht liefern das tatsächliche Geschehen und Reaktionen der Schüler in der Unterrichtsstunden, aber auch der Fragebogen. Die Begründungen für den Unterrichtsbesuch liegen zum einen in einer allgemeinen Neugier (4) und zum andern in der Verpflichtung als Jude zu lernen (3). Die Neugier als motivatorischer Hintergrund kann sich natürlich auch daran anbinden, dass der Religionsunterricht und Lehrer ein Novitäten darstellen und man erkunden will, wer hinter der Lehrerperson steckt, wie der Lehrer unterrichtet und was man lernen kann. Der Hälfte der Befragten war und ist es neu, mit anderen jüdischen Schülern zu lernen. 3 Schüler hatten an einem Ferienlager in Sobernheim teilgenommen und eine Schülerin hatte eine jüdische Schule in Riga besucht. Trotz verschiedener Probleme und Kritik wollen die Jugendlichen aber nicht darauf verzichten, weiterhin zum Religionsunterricht zu gehen. Das kann bedeuten, dass ein wachsendes Interesse an religiöser Vergemeinschaftung besteht. Eventuell ist ihnen auch bewusst geworden, dass sie andernorts kaum regelmäßig die Möglichkeit haben, etwas zum Judentum zu erfahren. Alternative Angebote zum Religionsunterricht nehmen 6 Schüler mit dem Fach Ethik in der Schule wahr. Begründungen für den Ethikbesuch geben sie nicht. Nur ein Schüler, der eine katholische Privatschule besucht, nimmt dort am christlichen Religionsunterricht teil. Eine Komponente, die den Unterricht attraktiv macht, bezieht sich auf die Zusammenarbeit, die fast von allen als angenehm gesehen wird. Demnach ist das soziale Klima erfreulich, so dass es die Schüler motiviert, zu kommen. In Hinsicht auf ihre Mitbeteiligung, die sich auf mögliche Entscheidungen im Religionsunterricht und die Artikulation eigener Ideen bezieht, zeigt sich, dass die Hälfte der Schüler tatsächlich meint, berücksichtigt zu werden. Die Antworten lassen sich bestimmt in der ZJD – Veranstaltung, jedoch weniger im Unterricht nachweisen. Religionsunterricht gefällt vier der befragten Schüler ausdrücklich, zwei Schüler äußern sich ablehnend und der Rest gar nicht. Man kann also sagen, dass der Religionsunterricht ambivalent betrachtet wird.

Zum Zentralgedanken des Judentums äußern sich 4 Schüler, die die Religion (2), den Glauben (2) oder den Zusammenhalt (1) prononcieren.

Schülerverhalten

Das Schülerverhalten im Unterricht ist einerseits geprägt durch eine bescheidene Teilnahme, z.T. reproduzierte Erklärungen und andererseits durch versuchte Initiativen, Wissensbestände einzufordern. Reproduktion und Initiative werden auf verschiedene Art und Weise durch den Lehrer aufgegriffen. Weiterhin offenbaren sich Formen und Strategien der Gegenwehr, mit denen sich die Schüler den Unterricht zu erleichtern glauben.

Wissensreproduktion: Im Gegensatz zum Hebräischunterricht, wo Begriffe nur übersetzt werden müssen, verlangen Begriffe im Religionsunterricht kürzere oder längere Beschreibungen. Begriffe, zu denen sich Schüler äußern, sind in wenigen Fällen noch nicht im Unterricht besprochen worden. In der ersten Besuchsstunde können sie Erklärungen zu den Termini Schofar, Sukka, und Sukkot geben. Es ist anzunehmen, dass die Hohen Feiertage vor der ersten Hospitation besprochen wurden.

Auch mit Tefillin, erklärt als „Lederkapseln, die an Kopf und Hand zu befestigen sind“, und dem Schemone essre, dem Achtzehngebet im „Gebetbuch“ wird Geläufiges verbunden. In der zweiten Stunde bringen sich die Schüler zu den Bezeichnungen Tefilla, Siddur, Machsor und Synagoge ein. So wird der Begriff Siddur durch einen 14 jährigen wie folgt beschrieben „Darin sind Gebete für jede Gelegenheit. Im Siddur wurden aus vielen Büchern Gebete zusammengestellt.“ Insgesamt rekurrieren erinnerte Wissensbestände auf kurze Bezeichnungen zu Kultusgegenständen (Schofar) und Feste oder auf funktionale Erklärungen, (Synagoge), auf rituelle Handlungen (Tefillin) oder Brauchtum (Chanukka).

Eigeninitiativen: Eigene Fragestellungen, so ist zu vermuten, deuten auf den Schülern relevante Aspekte ihrer jüdischen Identität. Neben generellen Fragen nach dem Machsor und der Funktion der Synagoge geht es den Jugendlichen um historische Prozesse, Frauenemanzipation im jüdisch-religiösen Kontext und um Gebetstypen – bzw. –riten. Das historische Interesse konkretisiert sich in der Erinnerung des Gedenktags zur „Reichspogromnacht“. Eingeleitet durch das Stichwort Synagoge suchen die Schüler den Lehrer zu bewegen, mehr dazu hören zu können, was jedoch abgelehnt wird. Bezogen auf Gebetstypen erscheint den Schülern die Hawdala interessant. Ein Schüler will wissen, ob das auch ein Gebet sei. Es sei die Trennung zwischen Shabbat und Wochentag, wie eine Verabschiedung vom Shabbat, erklärt die Rebbezin die Nachfrage, gibt aber keine Antwort auf die Frage. Der Schüler erhält zwar einen wichtigen funktionalen Verweis, weiß am Ende aber nicht, ob es sich um ein Gebet handelt oder nicht. Wenn die Schüler Gebetsriten ansprechen, wollen sie wissen, was passiert, wenn man ein Gebet vergessen hat, wann man das Kaddisch spricht und wie lange es dauert. Die Antwort „Das Kaddisch wird immer gesprochen.“ erscheint relativ undeutlich gegeben. Heißt das täglich, stündlich, zu jeder Gelegenheit in und außerhalb der Synagoge?

Diese Fragen, zeigen auch an, dass sich die Schüler ein minimales Wissen angeeignet haben, dass ihnen erst ermöglicht, zur Sache selbst Fragen zu stellen. Das Ziel der Initiativen deutet darauf, dass die Schüler jüdische Identität in einem religiösen Kontext wahrnehmen und sich diesen intellektuell erschließen wollen. Hier zeigt sich wohl am ehesten ein Interesse an der Religionsgemeinschaft und ihren Werten, die in eine intensivere Auseinandersetzung mit dem individuellen jüdischen Selbstverständnis münden können. Dem eigenständig formulierte Interesse wird gleichwohl nur ein kleiner Raum zugestanden.

Gegenreaktionen zur Unterrichtsstruktur zeigen die Schüler in direkter und indirekter Form. Unter indirekt wird ein Verhalten verstanden, das nicht beabsichtigt sondern spontan, natürlich einsetzt. Dazu gehört die Erschöpfung der Schüler und damit verbundene Konzentrationsprobleme. Direkte Reaktionen, als beabsichtigte Strategien, zeigen sich u.a. in der Vernachlässigung der Hausaufgaben und des Lernstoffes. Um Unterrichtsverbindlichkeiten zu entgehen oder ggf. auch zu provozieren bietet sich des Weiteren die Prozedur des Zuspätkommens an.

  • Gesamtbewertung

Die Problematik des Religionsunterrichts dieser Gemeinde scheint durch den Zusammenfall verschiedener ungünstiger Voraussetzungen determiniert. Mit einem offenbar für die hiesigen Verhältnisse unerfahrenen und daher unprofessionell erscheinenden Lehrer spitzt sich die schwierige Ausgangssituation zu. Obwohl die große Altersspannbreite und die unterschiedlichen Voraussetzungen der Schüler Kritik wecken, so bietet eine solche Großgruppe auch wechselseitige Vorteile. Da die jüngeren die Betrachtungsweisen der älteren, oftmals säkularer positionierten Schüler kennen lernen und die Älteren mit den religiösen Bezügen der Jüngeren, die z.T. schon zuvor RU besuchten, konfrontiert werden, können sich die Schüler mit unterschiedlichen Voraussetzungen und Zielrichtungen gegenseitig unterstützen. Die Integration in ein säkulares Umfeld (Schule, Mitschüler und Peergroup) und Einbindung in ein mehr oder minder religiös geprägtes Gemeindeleben verlaufen als parallele Prozesse und die Jugendlichen stehen einer doppelten Anforderung gegenüber, die sie austarieren müssen. Da zu Hause keine Basis rituellen Brauchtums gegeben ist, die Jugendlichen kaum die Synagoge besuchen, bliebe als Konsequenz, einen Bezug zum Ritus im oder ergänzend zum Religionsunterricht herzustellen. Schließlich müssen die Schüler erst in ihre jüdische Identität hineinlernen, bzw. sich hineinüben.

Die hier beschriebene Situation gibt keinesfalls ein Bild über die gegenwärtige Situation, zumal der hier beschrieben Lehrer nach kürzerer Zeit entlassen und heute ein durch die HfJS ausgebildeter Dozent den Religionsunterricht bestreitet.

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