Andreas Verhülsdonk
Die institutionell-kirchliche Perspektive auf die nationalen Bildungsstandards
Vortrag auf der Fachtagung zu Bildungsstandards für den jüdischen Religionsunterricht an der Hochschule für jüdische Studien (Heidelberg) am 23. Oktober 2006
Die Deutsche Bischofskonferenz hat für manchen Beobachter überraschend schnell und entschlossen auf die Einführung von Bildungsstandards durch die Kultusministerkonferenz im Dezember 2003 reagiert. Schon neun Monate später legte sie Kirchliche Richtlinien zu Bildungsstandards für den katholischen Religionsunterricht in den Jahrgangsstufen 5 – 10/ Sekundarstufe I (Mittlerer Schulabschluss)1 vor. Entsprechende Richtlinien für die Grundschule2 folgten im April 2006. Zeitlich parallel wurden auf der Ebene der Kultusministerkonferenz die Einheitlichen Prüfungsanforderungen im Abitur (EPA) für die Fächer Katholische und Evangelische Religionslehre überarbeitet; auch sie orientieren sich am Konzept der Bildungsstandards.3 Schließlich haben die deutschen Bischöfe in ihrem Schreiben Der Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen (2005)4 den religionspädagogischen Rahmen skizziert, in dem Bildungsstandards im Religionsunterricht verstanden und angewandt werden sollen.
Ich möchte Ihnen hier und heute einen Einblick in die Überlegungen und Entscheidungen der Kommission für Erziehung und Schule der Deutschen Bischofskonferenz geben, die den genannten Papieren zugrunde liegen. Die Kommission für Erziehung und Schule ist eine der 14 Fachkommissionen der Deutschen Bischofskonferenz. Sie hat die Aufgabe, die bildungspolitischen Diskussionen und schulpolitischen Entwicklungen zu analysieren, ihre Auswirkungen auf die kirchlichen Schulen und auf den katholischen Religionsunterricht zu prüfen und der Bischofskonferenz Empfehlungen zur kirchlichen Positionierung im Handlungsfeld Schule zu geben. Entsprechend diesem Auftrag hatte die Kommission zu prüfen, welche Auswirkungen die Vereinbarung der KMK über nationale Bildungsstandards auf den Religionsunterricht, auf seine Stellung im Fächerkanon und auf seine didaktisch-methodische Konzeption hat.
Nach anfänglich durchaus kontroverser Diskussion über Nutzen und Nachteil von Bildungsstandards im Allgemeinen und für den Religionsunterricht im Besonderen hat die Kommission einige Monate nach der Präsentation des Klieme-Gutachtens am 18. Februar 2003 eine Arbeitsgruppe eingesetzt mit dem Auftrag, einen Entwurf für Kirchliche Richtlinien zu Bildungsstandards für den katholischen Religionsunterricht in Anlehnung an die Überlegungen der KMK zu erstellen. In die Arbeitsgruppe wurden Vertreter der wissenschaftlichen Religionspädagogik, der Schulpraxis und der Schulverwaltung berufen. Darüber hinaus sollten die Stellungnahmen der Religionslehrerverbände, der kirchlichen Schulabteilungen und unabhängiger Experten in die Beratungen der Arbeitsgruppe einbezogen werden. Ausschlaggebend für die Entscheidung der Kommission waren sowohl fachpolitische als auch fachdidaktische Gründe.
Schon seit Ende der 90er Jahre lag der Fokus der bildungspolitischen Diskussion auf der Förderung von Basiskompetenzen (Lesefähigkeit, mathematische Modellierungsfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit in Englisch als internationaler Verkehrssprache). Entsprechend beschränkte die KMK die Entwicklung nationaler Bildungsstandards auf die Fächer Deutsch, Mathematik, auf die erste Fremdsprache und die Naturwissenschaften. Diese angesichts der PISA-Ergebnisse verständliche Entscheidung führte und führt jedoch mancherorts zu einem Verdrängungswettbewerb zwischen „harten“, weil standardbezogenen Fächern und vermeintlich „weichen“ Fächern, zu denen auch der Religionsunterricht gezählt wird. Es gab somit Grund für die Befürchtung, dass infolge der Einführung von Bildungsstandards in den so genannten Kernfächern die Stellung des Religionsunterrichts der Schule geschwächt werden könnte.
Mit der KMK-Vereinbarung über Bildungsstandards wurde nicht nur ein neues, in Deutschland bislang unbekanntes Steuerungsinstrument eingeführt, sondern eine umfassende Schulreform eingeleitet, die eine größere Autonomie und Eigenverantwortung der einzelnen Schule an verbindliche Zielvorgaben von Schule und Unterricht und deren konsequente Überprüfung (Evaluation/ Schulinspektion) bindet. Der die Reform leitende Perspektivenwechsel von der Input- zur Outputsteuerung wird langfristig das pädagogische Handeln in allen Unterrichtsfächern bestimmen, also auch im Religionsunterricht. Dass dies mehr als eine Vermutung ist, belegen die neuen Einheitlichen Prüfungsanforderungen im Abitur (EPA), die mittlerweile für fast alle Fächer vorliegen und kompetenzorientiert formuliert sind. Die Entwicklung in einzelnen Bundesländern wie in Baden-Württemberg zeigte zudem, dass auch für Fächer, für die die KMK keine nationalen Bildungsstandards formuliert hat, landesspezifische Bildungsstandards oder kompetenzorientierte Kerncurricula entwickelt werden.
Diese Beobachtungen lassen nur einen Schluss zu: Wenn der Religionsunterricht ein den anderen Fächern gleichwertiges „ordentliches Lehrfach“ (Art. 7 Abs. 3 GG) bleiben soll, müssen sich die für den Religionsunterricht Verantwortlichen der Diskussion um Bildungsstandards und Kompetenzen stellen. Mit den Kirchlichen Richtlinien zu Bildungsstandards für den katholischen Religionsunterricht nehmen die deutschen Bischöfe ihre grundgesetzlich garantierte Mitverantwortung für den katholischen Religionsunterricht wahr und geben eine bundesweite Orientierung für die Entwicklung von Bildungsstandards und Kerncurricula in den Ländern.
Das fachpolitische Argument hat freilich nur Gewicht, wenn es fachdidaktisch gestützt wird. Bildungsstandards können nur dann den Religionsunterricht schulpolitisch stärken, wenn sie ein religionspädagogisch geeignetes Instrument zur Entwicklung seiner Qualität sind. Die Frage lautet also: „Warum verbessern Bildungsstandards die Qualität des Religionsunterrichts?“
Den internationalen Leistungsvergleichsstudien wie TIMSS, PISA oder IGLU verdanken wir die Einsicht, dass wir uns in der Wirksamkeit der schulpolitischen Steuerungsinstrumente gründlich getäuscht haben. Die traditionellen Maßnahmen deutscher Bildungspolitik wie detaillierte Lehrpläne, Verordnungen und Erlasse, eine mancherorts mehrstufige Schulaufsicht und die umfangreichen Bestimmungen des Beamtenrechts haben – entgegen den Absichten der Bildungspolitiker – weder ein hohes Leistungsniveau gesichert, noch die Chancengleichheit der Schülerinnen und Schüler gefördert. Sie haben vielmehr zu einem bürokratischen und wenig transparenten Schulwesen geführt, in dem die angestrebten Ziele und die faktischen Wirkungen oft weit auseinander liegen. Vor PISA wurde in Deutschland kaum die Frage gestellt, ob die mit starker Rhetorik vorgetragenen Bildungsziele im Rahmen der Institution Schule und mit den Mitteln von Unterricht überhaupt verwirklicht werden können und welche Ziele tatsächlich erreicht werden. Die hohen Anforderungen an Erziehung und Bildung wurden so gut wie nie in Bezug zur tatsächlichen Leistungsfähigkeit der Schule gesetzt. Man kann daher Wolf Lepenies nur zustimmen: „Die Misere des deutschen Bildungssystems hat ihren Ursprung in einer fatalen Asymmetrie: wir überfrachten den Bildungsbegriff und verkennen die Erziehungswirklichkeit.“5
Derzeit verfügen wir noch nicht über valide Daten zur Wirksamkeit des Religionsunterrichts. An der Humboldt-Universität läuft zurzeit eine Untersuchung zum religiösen Weltwissen der 15jährigen, deren Ergebnisse wir wohl alle mit Spannung erwarten. Unbeschadet dieses Vorbehalts ist jedoch zu vermuten, dass die faktischen Wirkungen des Religionsunterrichts ebenso weit von den angestrebten Zielen entfernt sind wie in anderen Fächern. Die „fatale Asymmetrie“ (Wolf Lepenies) zwischen Bildungspathos und Erziehungswirklichkeit dürfte auch auf den Religionsunterricht zutreffen. In der öffentlichen Diskussion werden dem Fach bisweilen erstaunliche soziale und kulturelle Wirkungen zugeschrieben, ohne dass auch nur die Frage gestellt wird, ob diese Wirkungen in zweimal 45 Minuten pro Woche überhaupt erreicht werden können. Die Überfrachtung des Religionsunterrichts mit Wirkungsabsichten, die er nicht erfüllen kann, und mit moralischen Anforderungen, die Lehrerinnen und Lehrer überfordern, hat auch dazu geführt, dass das Profil des Religionsunterrichts unscharf geworden ist.
Bildungsstandards zwingen uns nun dazu, konkreter als bislang darzulegen, welches Wissen und welche Kompetenzen im Religionsunterricht vermittelt werden sollen und realistischerweise vermittelt werden können. Sie schützen Lehrerinnen und Lehrer vor unrealistischen Erwartungen an ihren Unterricht und führen langfristig innerhalb und außerhalb der Kirche zu einer realistischeren Wahrnehmung der Möglichkeiten und Grenzen von religiöser Bildung in der Schule. Bildungsstandards sollen mit anderen Worten die Kluft zwischen den meist sehr allgemein formulierten Zielen eines Faches und dem konkreten Unterricht überbrücken, indem diese Ziele unterrichtsbezogen konkretisiert und ihre Verwirklichung konsequent überprüft wird. Gleichzeitig zwingen Bildungsstandards uns, das Profil des Religionsunterrichts zu schärfen.
Es ist von nicht geringer Bedeutung, dass im Klieme-Gutachten6 die bildungstheoretischen Überlegungen des ehemalige Leiters des Deutschen PISA-Konsortiums Jürgen Baumert zu den Fächern Religion und Philosophie aufgenommen wurden, obwohl sie nicht von allen Mitgliedern der Expertengruppe geteilt werden. In Religion und Philosophie erkennt Baumert eine eigene Rationalitätsform („konstitutive Rationalität“), die auf „Fragen des Ultimaten“ – also Fragen nach dem Woher, Wohin und Wozu des menschlichen Lebens – bezogen ist.7 Das Proprium des Religionsunterrichts ist nicht Werteerziehung oder Kulturkunde, sondern die Sinnfrage oder, um die Differenz zum Philosophieunterricht einzubeziehen: das Proprium des Religionsunterrichts ist die Frage nach Gott und seinem Verhältnis zu uns Menschen und der Welt. Der Begriff „konstitutive Rationalität“ macht dabei deutlich, dass religiöse Überzeugungen diskursfähig sind und religiöses Wissen an das Wissen anderer Fächer und Lebensbereiche anschlussfähig ist. Damit ist ein Profil des Religionsunterrichts skizziert, das sich auch in den jüngsten Stellungnahmen der beiden Kirchen zum Religionsunterricht findet.8
Zu diesem Profil gehört auch eine Stärkung der kognitiven Dimension des Religionsunterrichts. Im Zentrum der Standarddiskussion steht der Begriff der „Kompetenz“. Unter Kompetenzen verstehen die Autoren des Klieme-Gutachtens „die bei Individuen verfügbaren und durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“.9 Im Unterschied zu den Schlüsselqualifikationen, über die wir in den 90er Jahren diskutiert haben, werden Kompetenzen immer an den Inhalten und Kernideen eines Faches oder einer Domäne erworben. Sie verbinden Wissen und Können. Bildungsstandards stärken somit die Fachlichkeit des Unterrichts. Sie sind ein geeignetes Instrument, um die Aneignung von strukturiertem Grundwissen über den christlichen Glauben und andere Religionen und die Entwicklung von religiöser Dialog- und Urteilsfähigkeit zu fördern – zwei zentrale Aufgaben des katholischen Religionsunterrichts. Das Konzept der Bildungsstandards zwingt uns, die zentralen Inhalte des Religionsunterrichts zu definieren, die in der Schule realistischerweise vermittelt werden können und sollen. Diese Herausforderung ist nicht neu. Schon 1974 hatte die Synode der (west)deutschen Bistümer gefordert, der Religionsunterricht müsse sich „auf das Fundament des Glaubens konzentrieren und das Gesamt des Glaubens vom Zentralen her verstehen.“10 Allerdings ist die Forderung der Synode nur unzureichend in den Lehrplänen und Lehrwerken umgesetzt worden. Insbesondere fehlt es bis heute an einer didaktischen Strukturierung der Inhalte, die zum einen im Sinne des vernetzten und kumulativen Lernens für Schülerinnen und Schüler nachvollziehbare Lernfortschritte und damit motivierende Lernerfolge ermöglicht und zum anderen den Schülerinnen und Schülern hilft, eine Vorstellung vom Ganzen des christlichen Glaubens, von seiner inneren Struktur und Logik zu entwickeln. Das Konzept der Bildungsstandards könnte ein geeignetes Instrument sein, diese „alte“ Forderung endlich umzusetzen. Hinweisen möchte ich hier auf eine Studie zur „Konfiguration religiösen Wissens“, die Rudolf Englert zurzeit an der Universität Essen durchführt und die sich mit den lern- und kognitionspsychologischen Voraussetzungen bei der Aneignung von strukturiertem religiösem Wissen beschäftigt.11
Allerdings hat sich gerade am Kompetenzbegriff auch ernstzunehmende Kritik entzündet. Begriffs- und Theoriebildung des Klieme-Gutachtens und der KMK-Vereinbarung orientieren sich unübersehbar an der Fachdidaktik Mathematik in den angelsächsischen Ländern, zudem am Common Framework for Science Outcomes in Kanada und am Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Fremdsprachen. Kritiker auch aus den Reihen der Religionspädagogen haben zu Recht die einseitige Fokussierung des Kompetenzbegriffs auf Problembewältigung und die Vernachlässigung wertbezogener Einstellungen und Haltungen im Bildungsverständnis des Klieme-Gutachtens beklagt.12 Viele Bildungsinhalte und prozesse insbesondere in den literarisch-musischen Fächern, aber auch in Religion und Philosophie gehen nicht im Paradigma des Problemlösens auf. Es wäre daher ratsamer gewesen, wenn die KMK eine weniger stark an den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern orientierte Begrifflichkeit gewählt hätte, die auch für die Bildungsinhalte anderer Fächer offener gewesen wäre. Die Rede von Kernzielen, Grundwissen und Grundfähigkeiten etwa hätte die Akzeptanz der Bildungsstandards in der Öffentlichkeit gefördert und das Missverständnis einer technokratischen Schulreform erst gar nicht aufkommen lassen.
Die Kirchlichen Richtlinien zu Bildungsstandards greifen diese beiden Kritikpunkte auf. Sie betonen, dass eine wichtige Aufgabe des Religionsunterrichts in der Förderung von wertbezogenen Einstellungen und Haltungen besteht.13 Genannt werden Wachheit für letzte Fragen, Lebensfreude, Dankbarkeit, Sensibilität für das Leiden anderer, Hoffnung auf Versöhnung über den Tod hinaus und die Wertschätzung des christlichen Glaubens. Die Autoren der Richtlinien sind sich dabei der Tatsache bewusst, dass Einstellungen und Haltungen nur begrenzt lehrbar sind. Oft ist es kaum möglich zu entscheiden, welchen Anteil der Religionsunterricht oder gar eine bestimmte Unterrichtsreihe an der Herausbildung einzelner Haltungen und Einstellungen hat. Sie werden auch nicht ausschließlich im Unterricht erworben, sondern ebenso im Schulleben, in der Familie oder in der Freizeit.
Es wäre jedoch töricht, die Förderung von Einstellungen und Haltungen in einen Gegensatz zum Erwerb von Kompetenzen zu setzen. Denn die Ausbildung von Einstellungen und Haltungen hat praktische und affektive, aber auch kognitive Dimensionen. Wenn Einstellungen und Haltungen wirksam sein sollen, sind sie immer mit Fähigkeiten und mit der Kenntnis von Sachverhalten verbunden. Einstellungen erfordern Einsicht. Sensibilität für das Leiden anderer lernt man gewiss nicht nur durch Unterricht. Aber im Unterricht kann man lernen, warum man für das Leiden anderer empfänglich sein soll und welche Konsequenzen eine solche Haltung für das eigene Leben und für das Zusammenleben in Staat und Gesellschaft hat.
Aus diesen Überlegungen folgt, dass Bildungsstandards einen Teil der Ziele des katholischen Religionsunterrichts konkretisieren, nämlich die Ziele im kognitiven Bereich. Hier sind sie ein geeignetes Instrumentarium zur Verbesserung des Unterrichts, weil sie konkreter als in den Lehrplänen die grundlegenden Kenntnisse und Fähigkeiten definieren, die Schülerinnen und Schüler nach vier, zehn oder zwölf Jahre Religionsunterricht erworben haben sollen. Das Erreichen der Bildungsstandards ist für die Beurteilung der Unterrichtsqualität nur ein Kriterium. Ein ebenso wichtiges weiteres Kriterium ist die Förderung der genannten Haltungen und Einstellungen. Die Gestaltung der Schul- und Unterrichtskultur, die Regeln des täglichen Miteinanders im Unterricht und die Wahl der Unterrichtsmethoden sind sowohl an den Bildungsstandards als auch an der Förderung der Einstellungen und Haltungen auszurichten. Beide zusammen bestimmen die Qualität des Religionsunterrichts.
Im Unterschied zum Mathematik- oder zum Fremdsprachenunterricht in der Spracherwerbsphase kann das Wissen im Religionsunterricht nicht einfach an Anwendungskontexte gebunden werden. Wissen ist nicht gleich Wissen. Hilfreich ist hier die Unterscheidung von Verfügungs- und Orientierungswissen, die der Philosoph Willi Oelmüller in den 80er Jahren in die Debatte eingeführt hat.14 Sein Fachkollege Jürgen Mittelstraß definiert Verfügungswissen als „Wissen um Ursachen, Wirkungen und Mittel; es ist das Wissen, das Wissenschaft und Technik unter gegebenen Zwecken zur Verfügung stellen“. Orientierungswissen hingegen ist „ein Wissen um gerechtfertigte Zwecke und Ziele; gemeint sind Einsichten, die im Leben orientieren (zum Beispiel als Orientierung im Gelände, in einem Fach, in persönlichen Beziehungen), aber auch solche, die das Leben orientieren (und etwa den ‚Sinn‘ des eigenen Lebens ausmachen)“.15 Zum Orientierungswissen gehört auch das religiöse Wissen. Eine biblische Geschichte oder ein Gebet können nicht einfach auf eine Situation angewandt werden. Der christliche Glaube ist keine Problemlösungs- oder Lebensbewältigungsstrategie, die man funktional und effizient anwenden könnte. Der Glaube verändert vielmehr die Erkenntnis und Deutung von Lebenssituationen und Problemen, indem er sie auf ein umfassenderes Verständnis von Wirklichkeit und Wahrheit bezieht. Der katholische Religionsunterricht versucht, das christliche Wirklichkeitsverständnis im Dialog mit den Erfahrungen und Überzeugungen der Schülerinnen und Schüler, in der Auseinandersetzung mit dem säkularen Wissen, mit den gegenwärtigen Fragen der Lebens- und Weltgestaltung und mit den Positionen anderer Religionen und Weltanschauungen zu erschließen und die Schülerinnen und Schüler zu befähigen, einen eigenen Standpunkt in religiösen und moralischen Fragen zu finden. Dieses Ziel des Religionsunterrichts muss sich dann auch in den Kompetenzen widerspiegeln.
Der Kompetenzbegriff gehört nicht zu den Grundbegriffen der Religionspädagogik. In den einschlägigen Fachlexika und Handbüchern sucht man ihn vergebens. Als erster Religionspädagoge in Deutschland hat Ulrich Hemel 1988 in einer umfangreichen Studie zu den Zielen religiöser Erziehung den Begriff der „religiösen Kompetenz“ eingeführt. Er bezeichnet damit „die erlernbare komplexe Fähigkeit zum verantwortlichen Umgang mit der eigenen Religiosität in ihren verschiedenen Dimensionen und in ihren lebensgeschichtlichen Wandlungen“16 und unterscheidet fünf Dimensionen, nämlich religiöse Sensibilität, religiöses Ausdrucksverhalten, religiöse Inhaltlichkeit, religiöse Kommunikation und religiös motivierte Lebensgestaltung.17 In Anlehnung an diese fünf Dimensionen, aber stärker auf die Ziele des schulischen Religionsunterrichts fokussiert, werden in den Einheitlichen Prüfungsanforderungen im Abitur (EPA) folgende fünf Kompetenzen unterschieden: Wahrnehmungs- und Darstellungsfähigkeit, Deutungsfähigkeit, Urteilsfähigkeit, Dialogfähigkeit und Gestaltungsfähigkeit. Die Kompetenzformulierungen in den Kirchlichen Richtlinien zu Bildungsstandards variieren dieses Kompetenzmodell mit Blick auf die jeweilige Schulstufe.
Für die Weiterentwicklung des Kompetenzmodells sehe ich zwei wichtige Desiderate. Das Kompetenzmodell der Kirchlichen Richtlinien beruht auf der Erfahrung und Einschätzung von Praktikern aus Schule und Unterricht. Es muss zukünftig stärker fachwissenschaftlich begründet und empirisch validiert werden. Ich hoffe, dass die wissenschaftliche Religionspädagogik in den nächsten Jahren religionsdidaktisch und lernpsychologisch fundierte Kompetenzmodelle entwickelt, die auch die entsprechenden Niveaustufen der Kompetenzentwicklung umfassen. Dabei wird man auf Theorien der Entwicklung des religiösen und moralischen Bewusstseins (Fowler, Oser, Kohlberg) zurückgreifen, diese jedoch stärker auf unterrichtliche Lernprozesse beziehen. Bislang stellen nur die Bildungsstandards für den jüdischen Religionsunterricht in Baden-Württemberg einen Bezug zu solchen Entwicklungstheorien her.
Im Bischofswort Der Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen wird neben der Vermittlung von religiösem Grundwissen und der Förderung religiöser Dialog- und Urteilsfähigkeit das Vertrautmachen mit Formen gelebten Glaubens als zentrale Aufgabe des Religionsunterrichts hervorgehoben.18 Die deutschen Bischöfe greifen damit die Diskussion um den „performativen Religionsunterricht“ auf, die seit einigen Jahren zunächst in der evangelischen Religionspädagogik mittlerweile aber auch im katholischen Bereich geführt wird. Dieser Diskussion liegt die Einsicht zugrunde, dass ohne den Bezug zum liturgischen und diakonischen Leben der Kirche die Auseinandersetzung mit den Lehrgehalten des Glaubens abstrakt bleibt. Religion ist keine Weltanschauung und primär auch keine Lehre, sondern eine Lebensform, eine mehr oder weniger stark normierte Praxis. Die religiöse Praxis, ihre Ausdrucksformen und Gestalten aber kann man nur verstehen, wenn man sie erlebt oder vollzieht. Es geht hier um „learning by doing“. Das kann im Unterricht selbst geschehen oder auf dem Weg der Hospitation und der Exkursion an außerschulischen Orten gelebten Glaubens (Gemeinde, Kloster, Caritas-Station usw.). Allerdings ist zurzeit noch strittig, was an Glaubenspraxis im Religionsunterricht vermittelt werden kann und welche Ziele der „performative Religionsunterricht“ realistischerweise anstreben kann. Eine der spannendsten religionspädagogischen Fragen der nächsten Jahre dürfte sein, wie die Intentionen eines „performativen Religionsunterrichts“ in Kompetenzen und Standards übersetzt werden können. Zurzeit läuft an der Humboldt-Universität in Berlin ein DFG-Projekt zu Bildungsstandards im evangelischen Religionsunterricht, in dem u.a. untersucht wird, wie der Erwerb von Partizipationskompetenz in Bildungsstandards konkretisiert werden kann.19 Die Ergebnisse dieses Forschungsprojekts werden auch für die Weiterentwicklung des katholischen Religionsunterrichts bedeutsam sein.
Die Kirchlichen Richtlinien zu Bildungsstandards machen keine Angaben zur Implementierung, also zur Umsetzung in Kerncurricula und Schulcurricula, und keine Angaben zur Evaluation. Auch fehlen Aufgabenbeispiele. Ich kann das hier aus Zeitgründen nur erwähnen. Die Kirchlichen Richtlinien enden für ein Bischofswort ungewöhnlich mit dem deutlichen Hinweis auf die Vorläufigkeit der Vorgaben. „Im katholischen Religionsunterricht sind Bildungsstandards ein neues pädagogisches Instrument, dessen Validität selbst der Evaluation bedarf. Es wird deshalb darauf ankommen, die Weiterentwicklung der Bildungsstandards an den Erfahrungen aus der Schul- und Unterrichtspraxis zu orientieren.“20 In diesen Schlusssätzen wird deutlich, dass die Kirchlichen Richtlinien sich erst noch in der religionspädagogischen Fachdiskussion und in der Unterrichtspraxis bewähren müssen. Sie sind nicht der Endpunkt, sondern der Beginn einer Entwicklung, in deren Verlauf die Vorgaben der Richtlinien sicher viele Korrekturen und Revisionen erfahren werden – und zwar sowohl durch die wissenschaftliche Religionspädagogik (auf einige Forschungsprojekte habe ich hingewiesen) als auch durch die Praktiker in Schule und Unterricht. Aber ohne Vorgaben werden wir keinen gemeinsamen Weg der Erprobung und Weiterentwicklung von Bildungsstandards im Religionsunterricht gehen können.
- Hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= Die deutschen Bischöfe 78). Bonn 2004.
- Hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= Die deutschen Bischöfe 85). Bonn 2006
- Die EPA werden voraussichtlich im Frühjahr 2007 veröffentlicht. Sie liegen dem Vf., der auch Mitglied der Arbeitsgruppe der KMK war, als Manuskript vor.
- Hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= Die deutschen Bischöfe 80). Bonn 2005.
- Bildungspathos und Erziehungswirklichkeit. In: Killius, Nelson; Kluge, Jürgen; Reisch, Linda (Hg.): Die Bildung der Zukunft. Frankfurt/ M. 2003, 13-31, hier 15.
- Klieme, Eckhard u.a.: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise. Hg. v. Bundesministerium für Bildung und Forschung. Berlin 2003, 68.
- Deutschland im internationalen Bildungsvergleich. In: Killius, Nelson; Kluge, Jürgen; Reisch, Linda (Hg.): Die Zukunft der Bildung. Frankfurt/M. 2002, 100-150, hier 107.
- Vgl. Der Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen, hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= Die deutschen Bischöfe 80), Bonn 2005, 7; Religionsunterricht. 10 Thesen des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, hg. v. Kirchenamt der EKD, Hannover 2006, 3.
- Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards, a.a.O., 72.
- Synodenbeschluss „Der Religionsunterricht in der Schule“ (1974). In: Texte zu Katechese und Religionsunterricht. Hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= Arbeitshilfen 66). Bonn 1998. Nr. 2.4.1.
- Vgl. Englert, Rudolf: Religion reflektieren – nötiger denn je. In: Kirche und Schule 33/ 2006 (Heft Nr. 139), 9 – 14, hier 13f.
- Vgl. z.B. Nipkow, Karl Ernst: Bildungsstandards – Schule – Religion: Wieviel Standardisierung verträgt der Religionsunterricht? In: ders., Pädagogik und Religionspädagogik zum neuen Jahrhundert. Bd. 1: Bildungsverständnis im Umbruch. Religionspädagogik im Lebenslauf. Elementarisierung. Gütersloh 2005, 110 – 134, hier 132 – 134.
- Vgl. Kirchliche Richtlinien 2004, 9f; Der Religionsunterricht 2005, 18f.
- Philosophisches Orientierungswissen. In: Philosophisches Jahrbuch 95 (1988), 96–106.
- Bildung und ethische Maße. In: Killius, Nelson; Kluge, Jürgen; Reisch, Linda (Hg.): Die Zukunft der Bildung. Frankfurt/M. 2002, 151 – 170, hier 164.
- Ziele religiöser Erziehung. Beiträge zu einer integrativen Theorie. Frankfurt/M. 1988, 674.
- Vgl. ebd., 677 – 690.
- Vgl. a.a.O., 23 – 27.
- Vgl. dazu Benner, Dietrich: Bildungsstandards und Qualitätssicherung im Religionsunterricht. In: Religionspädagogische Beiträge 53 (2004), 5 – 19.
- Kirchliche Richtlinien 2004, 31.